Der fremde Sohn (German Edition)
ein ganz normaler Typ, der sich mit seiner Freundin unterhielt.
»Der andere Dunkelhaarige sieht eher langweilig aus. Verkniffener Mund, ein Ohrring im linken Ohr. Sie gucken auf ein Handy und lachen über irgendwas. Die Haare des dritten Jungen sind dunkelblond, glaube ich, aber ganz kurz geschoren. Zu seinem Schulblazer und -hemd trägt er Jeans. Keinen Schlips. Die anderen haben Schulkrawatten. Reicht das?« Fiona seufzte erneut.
»Weiter.«
»Neben dem mit den geschorenen Haaren liegt eine Tasche auf dem Boden. Ein schwarz-roter Rucksack. Jetzt reißen sie jeder eine Tüte Chips auf und trinken Cola. Nein, warte, der Kurzhaarige trinkt eine Limo.«
»Haben sie noch immer das Handy?«
»Ja. Der mit der Akne scheint eine SMS zu schreiben.«
Brody zog sein Handy aus der Gesäßtasche seiner Jeans und wählte unter dem Tisch eine Nummer. Dann fragte er: »Hörst du was?«
Fiona runzelte die Stirn. »Nein, eigentlich nicht.«
»Schau zu ihnen hin. Gehen sie ans Handy?«
»Ja. Der Pickelige hält es ans Ohr und guckt ein bisschen verdutzt. Hast du sie gerade angerufen?«
»M-hm.«
»Warum?«
»Um sicherzugehen, dass es die Richtigen sind.«
Verwirrt lehnte sich Fiona zurück. In dem Augenblick kam Edie und brachte eine Soßenflasche, Servietten und Besteck. »Anscheinend sind es die Richtigen«, sagte Fiona leise, während sie abwechselnd Brody und die Jungen beobachtete.
»Gut«, erwiderte Brody nur und wandte den Kopf in die Richtung der drei. »Ich will das hier nämlich nicht vermasseln.«
Freitag, 24. April 2009
C arrie hatte es aufgegeben, ihren Sohn anzurufen. Es war nicht ungewöhnlich, dass er nicht dranging, sofern er überhaupt daran gedacht hatte, das Handy aufzuladen. Wie immer war sein Anruf zu einer unpassenden Zeit gekommen – sie war früh aufgestanden, weil heute Showtag war, und stand gerade unter der Dusche –, und er hatte keine Nachricht hinterlassen. Ihr kam es vor, als hätte sie ihn seit Tagen nicht gesehen. Erneut wählte sie seine Nummer, doch sofort schaltete sich die Mailbox ein. »Ich bin’s«, sagte sie. »Wir haben uns verpasst, jetzt bist du wieder dran mit Anrufen. Heute Abend bin ich früh zu Hause. Iss doch mit mir, wenn du magst.« Sie legte auf.
Martha hatte Croissants zum Frühstück gekauft. Beim Essen starrte Carrie in den verregneten Garten hinaus. Der Küchentisch, an dem sie saß, war so lang, dass eine große Familie daran Platz gefunden hätte.
»Bist du zu Hause?«, rief sie für den Fall, dass er sich gestern Abend unbemerkt in sein Zimmer geschlichen hatte. Ihre Stimme hallte durch das leere Haus. Sie hörte keine Musik und roch auch das süße Zeug nicht, mit dem er sich immer einsprühte. »Das benutzen die Jungs alle«, hatte er ihr erklärt und grinsend hinzugefügt: »Macht die Mädels tierisch an«, wohl wissend, dass er damit seine Mutter auf die Palme brachte.
Was, dachte sie und knabberte an ihrem Croissant, hatte ihm das Internat, für das sie dreißig Riesen im Jahr hingeblättert hatte, wirklich gebracht? Sie nahm sich vor, den Schulleiter anzurufen. Wieder einmal. Es musste doch möglich sein, die Sache ins Reine zu bringen. Die jetzige Situation war einfach unerträglich.
Carrie warf das halbgegessene Croissant in den Mülleimer, ging in ihr Arbeitszimmer und fuhr den Computer hoch. Es war noch früh, und bevor sie zur Morgenshow ins Studio aufbrach, wollte sie noch eine halbe Stunde lang das Material durchgehen, das die Rechercheure ihr geschickt hatten. Sie überflog die Beschreibungen der Katastrophengebiete, die manche Leute ihr Leben nannten, betrachtete deren jämmerliches Dasein aus dem sicheren Abstand ihres eigenen luxuriösen Heims und las die Berichte über die Armut und abgrundtiefe Verderbtheit dieser Menschen. Wie immer wurde ihre Bestürzung angesichts des geballten Elends nur durch das Bewusstsein gemildert, dass sie selbst ganz anders war.
»Wie können Menschen nur so leben?«, fragte sie sich. Auf der Liste der potentiellen Studiogäste stand erneut Lorraine Plummer. Erstaunlicherweise waren nach dem Bericht über die Ermordung ihres Sohnes im vergangenen Herbst nicht allzu viele Anrufe eingegangen, und um Dennis einen Gefallen zu tun, hatte sich Carrie bereit erklärt, den Fall noch einmal aufzugreifen. Nach den Einschaltquoten zu urteilen, waren diese Anschlussshows bei den Zuschauern beliebt. Es waren Seifenopern aus dem wirklichen Leben, die einen Blick auf Tragödien erlaubten, wie sie die meisten Menschen
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