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Der fremde Sohn (German Edition)

Der fremde Sohn (German Edition)

Titel: Der fremde Sohn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam Hayes
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längst in staatliche Obhut genommen?« Sie hatte die Stimme erhoben und wedelte mit einem Foto des Kleinkindes über ihrem Kopf herum. Sie war eine Mutter, und auch wenn das hier nicht ihr Leben betraf, tat es ihr doch weh.
    Totenstille. Dann begann einer im Studio zu klatschen. Und dann noch einer und noch einer. Auf einmal standen die rund hundert Studiogäste auf und applaudierten. Zu viele Kinder waren in den letzten Jahren durch die Maschen gerutscht, und die Öffentlichkeit verlangte Antworten.
    Als der Applaus verebbte, fuhr Carrie fort: »Haben Sie nun Ihre Tochter geschlagen oder nicht?«
    Er schwieg noch immer.
    Carrie betastete ihren Ohrhörer. »Gib ihm noch zehn Sekunden«, hörte sie den Sendeleiter sagen. Hinter der Bühne saßen sie jetzt sicher wie auf heißen Kohlen. Sie bearbeitete den Kerl nun schon seit fast einer Stunde, er musste jeden Moment zusammenbrechen. Sogar Dennis war gekommen. Er brauchte unbedingt ein Geständnis. »Kamera zwei näher ran«, kam Leahs Anweisung, womit sie sich über Matts Entscheidung, nur mit einer Kamera zu arbeiten, hinwegsetzte.
    Vincent starrte auf seine Schuhe und rieb die Spitzen aneinander. »Sie war ungezogen«, sagte er schließlich. »Jeder gibt doch seinem Kind mal einen Klaps. Ist doch kein Verbrechen.«
    Das Publikum schnappte erschrocken nach Luft, dann brach es in Buhrufe und wütendes Geschrei aus. Die Mutter des Kindes sprang auf und lief hinaus, und weitere Männer vom Sicherheitsdienst kamen auf die Bühne gerannt. Carrie ließ dem Tumult noch einen Augenblick lang seinen Lauf, dann wandte sie sich Kamera zwei zu und kündigte mit ihrer typischen Geste eine Werbepause an.
    »Phantastisch, Schätzchen«, säuselte Leah affektiert. »Du bringst wirklich jeden zum Beichten.«
    Auch Dennis murmelte ein paar anerkennende Worte. Danach verschwand er eilig hinter der Bühne, um Vincent weiter zu befragen.
    Während die Werbung lief, saß Carrie wie gewöhnlich auf ihrem Stuhl. Das Publikum war unruhig, überall wimmelte es von Sicherheitsleuten, und hin und wieder ertönte noch ein wütender Ausruf aus dem Zuschauerraum. Die Atmosphäre knisterte vor Spannung, doch Carrie achtete nicht weiter darauf. Sie erledigte ihren Job, um den Rest sollten sich die anderen kümmern. Nach der Pause ging es weiter – es mussten noch mehr verpfuschte Leben zur Schau gestellt werden.
    Für einen Moment überfiel Carrie Müdigkeit, nicht körperliche, sondern emotionale Erschöpfung. Dieses ebenso unangenehme wie ungewohnte Gefühl kam so plötzlich, als hätte ihr jemand von hinten einen heftigen Stoß versetzt. Sich mit solchen Leuten zu beschäftigen, laugte einen aus, das musste sie sich eingestehen. Und schließlich drehte sich ihr Leben seit zehn Jahren um kaum etwas anderes. Wie gern hätte sie für eine Weile nichts mit ihnen zu tun gehabt, mit ihrem elenden, tragischen, hoffnungslosen Dasein, das so gar nichts mit Carries eigenem Schicksal zu tun hatte und doch zwangsläufig immer enger mit ihm verknüpft wurde. Jede Show fiel ihr schwerer, aber ironischerweise wäre sie ohne diese unglückseligen Menschen noch immer eine unbekannte Journalistin, die sich mit kleinen Meldungen in den hintersten Rubriken des Lokalblättchens mehr schlecht als recht über Wasser hielt.
    Carrie musste sich zusammenreißen. In weniger als einer Minute ging die Show weiter. Die nächste Story würde ihnen astronomische Einschaltquoten bescheren.
    Die Visagistin machte sich an ihren Wangen zu schaffen.
    Carrie lächelte.
    Das alles war Schwarzweißmalerei. Wie die schwarz-weißen Schuhe, die sie für diese Show gewählt hatte. Aber ihre Arbeit war eine Sache, ihr Privatleben eine ganz andere.
    Als ihr Handy klingelte, nahm sie den Anruf an.
    Sie schob das Make-up-Mädchen beiseite.
    Wer war das?
    Ihr fiel die Kinnlade herunter.
    Sie ließ die Wasserflasche fallen.
    Sie spürte, wie der kalte Inhalt ihr an die Fußknöchel spritzte.
    Sie rannte los.
    Leah Roffe überflog den Bericht. Dann nahm sie die Brille ab und warf einen Blick auf die Uhr. Die Show war schon seit einer Stunde vorbei, und noch immer liefen in der Telefonzentrale die Leitungen heiß. Stirnrunzelnd sah sie Dennis an. »Mit den Fällen hier kann ich nicht viel anfangen.« Entgegen Leahs Hoffnungen hatte ihre kurze wöchentliche Besprechung für die Show nicht den richtigen Stoff geliefert, um von der heutigen Katastrophe abzulenken. Sie konnte sich einfach nicht konzentrieren.
    »Also gut, dann gebe ich den

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