Der fremde Sohn (German Edition)
glücklicherweise nie durchmachen mussten.
Die Vor-Ort-Aufnahmen mit Lorraine Plummer waren bereits geschnitten und sollten binnen eines Monats gesendet werden. Um der Mutter willen hoffte Carrie inständig, dass sich nach der Show ein paar brauchbare Zeugen bei Dennis’ Einsatzzentrale melden würden. Der Tod des Jungen war der Auftakt zu einer ganzen Serie von Messerstechereien in der Gegend gewesen, die, wie Carrie feststellen musste, erschreckend nahe an ihrem eigenen Wohnort lag. Wie konnten zwei so völlig unterschiedliche Bezirke wie Hampstead und Harlesden nur wenige Kilometer voneinander entfernt sein?
»Armer Kerl«, sagte sie vor sich hin und klickte das Gesicht des toten Jungen weg. Einen Augenblick lang betrachtete sie das Bild von Lorraine Plummer in dem eingescannten Zeitungsausschnitt. Leere Augen, hohle Wangen, leblose Miene. Eine Frau, die ihre Seele für immer verloren hatte, das konnte Carrie deutlich erkennen.
Kurz entschlossen schickte sie Leah eine E-Mail mit höchster Dringlichkeitsstufe, Lorraine Plummer müsse unbedingt nächste Woche in die Sendung. Irgendetwas an dem Fall passte zu der Stimmung, in der sich Carrie seit einiger Zeit befand – das immer stärker werdende Gefühl der Leere, die innere Unruhe, die Angst, die Kontrolle zu verlieren. Für die Mutter eines Teenagers wahrscheinlich ganz normale Gefühle.
Um das Unbehagen zu vertreiben, nahm Carrie ein silbergerahmtes Foto ihres Sohnes in die Hand, auf dem er einen eleganten Anzug und seine Schulkrawatte trug. Es war am Ende seines letzten Jahres am Denningham College aufgenommen worden, kurz bevor er beschlossen hatte, nicht mehr dorthin zurückzukehren.
»Du dummer, dummer Junge«, flüsterte sie seinem Bild zu. »Du hättest dort wenigstens noch einen mittleren Schulabschluss machen können.« Sie erinnerte sich, wie entsetzt sie gewesen war, als er verkündete, dass er nicht nur Denningham verlassen, sondern auch die Hälfte der Fächer aufgeben wollte, mit denen er sich in den vergangenen Jahren beschäftigt hatte.
»Was soll ich mit Latein und Deutsch?«, fragte er, an die Arbeitsplatte in der Küche gelehnt. Carrie sah noch seine schmutzigen Hände vor sich, die schmierige Abdrücke auf der Arbeitsplatte hinterließen, nachdem er hinausgestürmt war.
»Einen Studienplatz finden?«, rief Carrie ihm nach. »Einen anständigen Job?« Seine Chancen auf ein Studium in Oxford oder Cambridge hatten sich in Luft aufgelöst, als er Denningham verließ. Drei Gespräche mit dem Schulleiter, zahllose E-Mails und endlose Standpauken, die sie ihrem Sohn gehalten hatte, waren zwecklos gewesen.
»Ich will kein privilegiertes reiches Söhnchen einer berühmten Mutter sein«, war seine abschließende Begründung. »Mehr gibt’s dazu nicht zu sagen!«, fauchte er noch, bevor er seine Zimmertür hinter sich zuschlug.
»Aber unterprivilegiert soll mein Sohn ganz sicher auch nicht sein«, flüsterte sie und goss sich einen Wodka nach dem anderen ein, als könne sie damit die Leere in ihrem Herzen füllen.
Jetzt hatte sie ihn. Als er die Aufnahmen sah, die bei ihm zu Hause entstanden waren und ihn mit seiner zweijährigen Tochter zeigten, die Bilder seiner Frau und seiner Freundin, beide mit Blutergüssen im Gesicht, war er ausgerastet und hatte angefangen, die Möbel im Studio auseinanderzunehmen, bis ihn die Männer vom Sicherheitsdienst überwältigten. Kein Zweifel, der heutige Stargast war ein echter Scheißkerl. Carrie hätte an der Gesellschaft verzweifeln mögen. Aber zugleich war sie begeistert.
»Sehen Sie mich an, Vincent.« Leichten Schrittes ging sie quer durch das Studio bis zu dem Stuhl, auf dem er – noch immer von den Securitymännern festgehalten – saß. Er war ein kleiner Mann, der etwas von einem Wiesel hatte. Ihr jagte er keine Angst ein. Sie ging vor ihm in die Hocke, das Gesicht halb ihm und halb der Kamera zugewandt, die ihr gefolgt war.
»Jetzt sagen Sie mir ehrlich, haben Sie Ihre kleine Tochter geschlagen?« Sie wartete einen Augenblick lang, auch wenn ihr klar war, dass er nicht antworten würde. Noch nicht. »Warum wurde in ihrem ersten Lebensjahr siebzehnmal das Jugendamt alarmiert, Vincent? Warum zeigen Polizeifotos den blutunterlaufenen Abdruck einer Männerhand auf ihrem Rücken? Warum sehen die Gesichter Ihrer bedauernswerten Frau und Freundin aus wie verfaulte Äpfel? Warum, möchte ich wissen« – Carrie stand auf und drehte sich zum Publikum –, »wurde dieses kleine Kind nicht schon
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