Der fremde Sohn (German Edition)
seine Hand, die er auf ihren Arm legte, so zitterte. Sie verlor auch kein Wort darüber, dass Brody alle Studenten und Kollegen ignorierte, die ihn willkommen hießen und ihm alles Gute wünschten. Und sie musste auch nicht lange darüber nachdenken, warum er schwieg, während sie mit dem Aufzug in den vierzehnten Stock fuhren, denn, so stellte sie lächelnd fest, sie wusste es bereits.
Professor Brody Quinell war genauso verletzlich wie sie, und ebenso wie sie wollte er es sich nicht anmerken lassen. Im Fahrstuhl kniff Fiona die Augen fest zu, um sich die Dunkelheit besser vorstellen zu können. Als sich die Türen öffneten und sie Brodys warme Hand auf ihrem Arm spürte, schlug sie die Augen wieder auf, verblüfft darüber, was ihr dieser kurze Moment gebracht hatte: einen Einblick in die Welt des Mannes, von dem sie hoffte, dass er sie wieder heil machen würde.
Freitag, 24. April 2009
C arrie wusste nicht mehr, wie sie aus dem Studio und in das Taxi gekommen war, das sie zur Klinik brachte. Sie erinnerte sich nicht daran, dass sie den Taxifahrer bezahlt hatte und die Eingangstreppe hinaufgehastet war. Sie merkte gar nicht, dass ihre Beine nachzugeben drohten, als sie sich schwer atmend an den Empfangstresen lehnte und die Frau hinter der Glasscheibe mit Fragen bestürmte.
»Name des Patienten?«, wollte die Angestellte wissen.
»Es … es ist mein Sohn«, brachte Carrie mit erstickter Stimme hervor. Bei dem Versuch, seinen Namen deutlich auszusprechen, verhaspelte sie sich.
Die Frau schluckte und tippte den Namen ein. Sie wurde blass, warf Carrie einen Blick zu und griff zum Telefon.
»Sagen Sie mir doch einfach, auf welcher Station er liegt. Auf welcher Etage, um Himmels willen? Es geht hier um meinen Sohn! Wissen Sie überhaupt, wer ich bin?«
Die Angestellte nickte zum Zeichen, dass sie die verzweifelte Frau auf der anderen Seite der Glasabtrennung erkannt hatte, weigerte sich jedoch, die Flut von Fragen zu beantworten. Eine Minute später erschien ein Arzt – wenigstens nahm Carrie an, dass es ein Arzt war – und führte sie aus dem Empfangsbereich.
»Hier entlang, Mrs … Kent.« Carrie registrierte, dass der Mann bei ihrem Anblick zweimal hinsah. Bestimmt würden sie später im Ärztezimmer darüber tratschen, dass ein Promi hier gewesen war, aber zumindest wurde sie jetzt mit Vorrang behandelt.
»Na endlich«, sagte sie. »Bitte, bringen Sie mich zu meinem Sohn. Ich weiß überhaupt nicht, was los ist.«
Es war alles so unheimlich. Ein schlechter Traum. Nein, ein entsetzlicher Alptraum, der begonnen hatte, als die Sekretärin der Schule anrief, um Carrie mitzuteilen, dass ihr Sohn einen Unfall gehabt hatte und ins Krankenhaus gebracht worden war. Carrie war selbst überrascht, ja erschrocken, dass sie, ohne nachzudenken, mitten in ihrer Show aus dem Studio gerannt war. Und das alles vielleicht nur, weil er sich den Arm gebrochen hatte und nun wahrscheinlich in seinem Krankenhausbett lag und schon wieder SMS schrieb. Der Vorfall würde ernste Konsequenzen haben, und sie nahm sich vor, ihm gründlich die Leviten zu lesen und ihm damit zu drohen, dass er in einer Livesendung auftreten müsse zum Thema »Wie ich die Zeit meiner Eltern vergeude«. Diese verflixten Gören, dachte sie.
Während sie dem Arzt durch die Krankenhausflure folgte, dachte Carrie daran, wie schön es wäre, wenn sie und ihr Sohn den gleichen Nachnamen hätten. Dann hätten Mutter und Kind doch wenigstens etwas gemeinsam, einen Ausgangspunkt für einen Neuanfang. Sie fragte sich, ob die Kluft, die sich im Laufe der letzten Jahre zwischen ihnen aufgetan hatte – dieser entsetzliche Abgrund zwischen Erwachsenen und Jugendlichen –, schon zu groß war, um noch ein Rettungsseil hinüberzuwerfen.
»Wissen Sie, was passiert ist? Anscheinend hat es einen Unfall gegeben.« Sie musste beinahe rennen, um mit dem schweigsamen Arzt Schritt zu halten, der statt einer Antwort nur mit den Schultern zuckte. In Carries Kopf rasten die Gedanken. Vielleicht war im Chemielabor eine Chemikalie verschüttet worden, oder es hatte im Werkunterricht einen Unfall mit der Säge gegeben. O Gott. War er heute eigentlich mit dem Fahrrad zur Schule gefahren oder mit dem Bus? Sie hatte keine Ahnung. Sie war ja noch nicht einmal sicher, ob er letzte Nacht überhaupt nach Hause gekommen war. War er bei seinem Vater gewesen? Möglicherweise eine Lebensmittelvergiftung. Bei dem Müll, den er immer aß. Vielleicht hatte er sich aber auch nur den
Weitere Kostenlose Bücher