Der fremde Sohn (German Edition)
hätte, dass alles richtig war. Ein Neuanfang zu Beginn des neuen Jahrtausends.
Im Gehen lächelte sie vor sich hin. Manche Dinge ließen sich eben nicht auf eine mathematische Formel reduzieren.
Zu Hause angekommen, unterschrieb Fiona den Vertrag, ohne ihn auch nur durchzulesen.
Ihr erster Arbeitstag bei Brody Quinell war nicht gerade eine Herausforderung für eine studierte Mathematikerin.
»Blau oder schwarz?« Sie ließ ihn die verschiedenen Socken befühlen.
»Diese hier. Die sind weicher.«
Sie malte sich aus, wie er sie sich über die Füße streifte, wie sie sich eng an seine Knöchel schmiegten, glaubte den leichten Luftzug zu spüren, wenn er sich vorbeugte, um sie anzuziehen.
»Zehn Paar?«
Brody nickte. Gleich darauf stieß er gegen einen Ständer mit Unterhosen.
»Von denen nehmen wir am besten auch noch ein paar mit, wo wir gerade hier sind.« Fiona holte mehrere Packungen aus dem Regal. Am Ende ihres ersten Vormittags als Assistentin von Professor Brody Quinell – dem ebenso brillanten wie gutaussehenden Star der Statistischen Forschung, dessen zugespitzte Thesen die mathematische Fachwelt in Aufruhr versetzten – hatte Fiona seinen Bestand an Unterwäsche ergänzt, ihm genügend Toilettenartikel für ein ganzes Jahr gekauft und seinen Kühlschrank mit den Lebensmitteln aufgefüllt, auf denen er bestanden hatte und die sie nicht einmal ihrer Katze vorgesetzt hätte.
»Ich hätte gedacht …« Sie zögerte. Er saß an dem kleinen Küchentisch, während sie die Vorräte auspackte. »Haben Sie nie … ich meine …« Sie hätte so gern für ihn gesorgt.
»Was? Spucken Sie’s aus, Fiona. Wenn wir zusammenarbeiten wollen, müssen wir offen und ehrlich zueinander sein.«
»Ach, nichts«, erwiderte sie und dachte: Verrückt. Völlig unmöglich. Er ist mein Chef. Warum empfinde ich so für ihn? Doch wann immer sie an ihn dachte, hatte sie Schmetterlinge im Bauch wie ein Teenager, und die Vorstellung, dass er hier lebte, war ihr zuwider. Diese Wohnung war einfach scheußlich. Mehr als scheußlich. Nahm er das denn gar nicht wahr?
»Ihre Frau …« Fiona unternahm einen neuen Anlauf und überlegte, wie sie ihre Frage möglichst behutsam formulieren konnte. »Haben Sie beide hier zusammen gelebt? In dieser Wohnung?«
»Himmel, nein!«
»Wo denn dann?«
»Wir hatten ein schönes Zuhause.« Brody kniff die Augen zusammen, wie um die Vergangenheit schärfer in den Blick zu bekommen. »Ein Haus mit Garten. Mit einem Gartenhäuschen und einer Schaukel für meinen Sohn. Wir hatten einen beigefarbenen Teppich und frische Blumen auf dem Tischchen im Flur. Häusliches Glück, wie ich es mir nie hätte träumen lassen.«
Beide schwiegen, und man hörte nur das Rascheln, als Fiona das billige Zeug im Kühlschrank verstaute. Besorgt dachte sie an seinen Sohn. Hoffentlich würde der nicht zum Problem werden.
»Und wissen Sie, womit ich auch nie gerechnet hätte?«
Fiona drehte sich um und nickte nur, ohne darüber nachzudenken. Doch irgendwie spürte er ihr Interesse.
»Dass das alles einmal wieder vorbei sein würde.«
Schließlich kam sie doch noch an die Universität, um die Arbeit zu tun, für die sie sich ursprünglich beworben hatte. Die mathematische Fakultät lag in einem zwölf Hektar großen Park zwischen Kew Gardens und Osterley Park. Fiona fuhr bis an die Pförtnerloge heran und zeigte ihren neuen Ausweis. Der Pförtner warf einen Blick in den Wagen und sagte: »Schön, dass Sie wieder da sind, Herr Professor.«
Brody hob grüßend die Hand, und Fiona fuhr weiter, der Beschilderung nach, bis zum Angestelltenparkplatz.
»Heute ist für mich das erste Mal«, sagte Brody, nachdem sie den Motor ausgeschaltet hatte.
»Inwiefern?« Ihr gefiel die Vorstellung, dabei zu sein, wenn etwas Neues in seinem Leben begann.
»Das erste Mal, dass ich wieder an die Uni komme, seit … seit …« Er schluckte und hielt die Augen starr geradeaus gerichtet. Bisher hatte er nicht darüber gesprochen, wie es geschehen war. »Es ist ein paar Monate her, dass ich zuletzt hier war.«
»Also dann, gehen wir rein?« Plötzlich war Fiona genauso nervös wie der berühmte Mann neben ihr. Sie stiegen aus, und Fiona ging um den Wagen herum und nahm Brodys Arm. Für eine Sekunde schloss sie die Augen, dann fragte sie: »Haupteingang?«
»Nein«, antwortete Brody. »Folgen Sie den Schildern zum Hintereingang.«
Fiona brauchte weder zu fragen, warum er unbemerkt in das Gebäude gelangen wollte, noch, weshalb
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