Der fremde Sohn (German Edition)
»Ich bin also ein Waisenkind.« Er grinste.
»Na, ich bleibe jedenfalls bis gegen sieben hier. Ruf mich, wenn du etwas brauchst, Schatz.«
Max rechnete damit, dass sie ihm im Hinausgehen über den Kopf strich, doch das tat sie nicht. Als er auf einen Knopf an der Fernbedienung drückte, fuhr ein Fernseher aus der Wand. Irgendein Privatsender, in dem ein Anruf-Gewinnspiel lief. Wie viele Tage hat die Woche? Gewinnen Sie fünftausend Pfund in bar! A) 1, B) 7, C) 365 .
Max’ Mund wurde trocken, seine Hände begannen zu schwitzen, und sein Herz schlug schneller. Er wählte die angegebene Nummer und lauschte der endlos langen Bandansage. Dann nannte er seine persönlichen Daten und sagte laut und deutlich, die richtige Antwort sei B). Dasselbe wiederholte er noch ein Dutzend Mal. Anschließend aß er seinen Teller leer, stellte ihn auf der blitzsauberen Spüle ab und verließ die Küche. Irgendwie wusste er, dass er diesmal nicht gewinnen würde.
Max hätte Dayna schrecklich gern wiedergesehen. Er musste immer daran denken, wie warm und lebendig sich ihr Bein durch den Stoff ihrer Jeans angefühlt hatte. Außerdem schien sie ihn wirklich zu mögen. Sie hatten zusammen Picknick gemacht, sie hatte ihn in seinem Schuppen besucht, er hatte ihr etwas geschenkt, sie waren gemeinsam ins Kino gegangen und hatten miteinander auf dem Bett seines Vaters gelegen. Max machte innerlich einen Luftsprung.
Seit Martha am Abend zuvor gegangen war, hatte er mit niemandem mehr gesprochen. Schnaufend hatte sie säckeweise Kleider von seiner Mutter aus dem Haus geschleppt, um sie zur Altkleidersammlung zu bringen. Heute regnete es. Max zog sich mit seinen Coco-Pops in den Salon zurück, der zum Einnehmen des Aperitifs, für bedeutende Gäste und wichtige Besprechungen reserviert war, und setzte sich zum Essen auf die damastbezogene Couchgarnitur. Als er ein wenig Schokomilch auf den Stoff kleckerte, wischte er sie mit dem Saum seines Bademantels ab.
Es war ein langweiliger Raum, dachte er und schaute sich um. Kein Fernseher, nicht einmal Bücher. Er betrachtete die Gemälde, die seine Mutter ausgesucht hatte. An allen Wänden hingen diese riesigen Schinken mit ihren bunten abstrakten Formen – oder war das da ein nackter Körper, fragte er sich. Über dem Kamin hing das größte Bild von allen: eine schokoladenbraun und blau gestreifte Masse dick aufgetragener Farbe, die … gar nichts darstellte. Max wusste, was diese Bilder gekostet hatten. Er verstand seine Mutter einfach nicht.
Er ging wieder in die Küche, öffnete den Kühlschrank und begutachtete den Inhalt. Es war nichts dabei, das er mochte. Plastikschälchen mit Beeren, Packungen mit Salat, seltsam aussehende Fleischstücke in Wachspapier neben Käse, der zu bizarr wirkte, um essbar zu sein. Außerdem die übliche Auswahl an Gänseleberpastete, Fisch und Früchten, die er nicht kannte. Max, der noch immer hungrig war, hatte Lust auf eine Fleischpastete oder auf Würstchen mit Pommes.
Er zog das Handy aus der Tasche.
Treffen wir uns?
Sekunden später kam die Antwort: Ja. Wo?
Beim Imbiss an der Schule.
OK. X
Sie hatte doch tatsächlich einen Kuss daruntergesetzt. Max nahm sich vor, diese SMS niemals zu löschen. Er rannte nach oben in sein Zimmer und zog sich eilig Jeans, T-Shirt und eine Jacke mit Reißverschluss an, putzte sich die Zähne, rieb sich irgendein Gel in die Haare und beschloss, den Pickel am Kinn in Ruhe zu lassen. Dann eilte er, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunter. Plötzlich wurde ihm schwindlig. Es schien, als könnte dies der schönste Tag seines Lebens werden.
Sie konnten zusammen Pommes essen, vielleicht einen Spaziergang am Fluss machen und die vorbeifahrenden Züge mit Abfall bewerfen. Dann wollte er ihr vorschlagen, zur Bude zu gehen, sich dort neben sie auf den Autositz setzen, Schulter an Schulter … und dann … Er sehnte sich so sehr danach, Dayna zu küssen, dass es ihm tief in der Kehle weh tat.
Bevor er das Haus verließ, ging er in die Küche und öffnete eine Schublade. Leicht glitt sie heraus, bis der gleichmäßig eingekerbte Holzeinsatz zum Vorschein kam, in dem ein Dutzend hochwertiger Messer lagen. Seine Mutter kaufte stets nur das Beste.
Nur ein kleines, dachte er, mit dem er die Verpackungen seiner Gewinne aufschneiden konnte.
Er strich mit dem Finger über die Rücken der einzelnen Messer, als spiele er auf einem tödlichen Xylophon. Sein Herz schlug schneller, als er sanft die schimmernden Griffe
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