Der fremde Sohn (German Edition)
der Schule auswerteten, hatten etwas gefunden, das er sich ansehen sollte.
Dennis hatte seit Stunden nichts gegessen und konnte sich schon gar nicht mehr erinnern, wann er zuletzt geschlafen hatte. Am Kaffeeautomaten in der Halle blieb er stehen, steckte eine Münze in den Schlitz und drückte auf den Knopf, doch nichts geschah. Er versetzte der Maschine einen Tritt und ging weiter.
»Was habt ihr denn?« Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben die beiden Beamten. In dem abgedunkelten Raum leuchtete eine Reihe von Bildschirmen.
»Schauen Sie sich das mal an«, sagte Deb Curry. Sie arbeitete noch nicht lange bei der Kripo in Brent, hatte sich aber bereits bewährt. Sie war sorgfältig und gewissenhaft und dabei unglaublich robust.
Sie ließ die verschwommen graue Aufzeichnung ein Stück zurücklaufen und stellte die Wiedergabe auf ein Bild pro Sekunde ein. Die Zeitangabe in der rechten unteren Ecke des Monitors zeigte den 24. April 2009, 10.34 Uhr.
»Die fünf Jugendlichen dort kommen aus der Richtung der Schule, wo sich der Vorfall ereignet hat. Man sieht, wie sie die Bottle Road entlang zur Acton Lane gehen. Ich konnte ihren Weg bis zum Bahnhof Harlesden verfolgen.«
Dennis beugte sich vor, um besser sehen zu können, doch die Jungen waren nur von hinten aufgenommen und trugen alle Kapuzen. »Sind irgendwo die Gesichter zu erkennen?«, fragte er. Selbst in der extremen Zeitlupe blieb es nicht verborgen, dass sie Hals über Kopf rannten.
»Kein einziges. Jedenfalls nicht deutlich. Einige der Aufnahmen habe ich zum Vergrößern geschickt, mal gucken, was es bringt. Außerdem habe ich die Aufzeichnungen von der Kamera am Bahnhof angefordert, aber die bekommen wir erst morgen früh.«
Dennis nickte. »Die Trainingsjacke da mit den weißen Streifen auf dem Ärmel …« Er kniff die Augen zusammen und schaute noch einmal genauer hin. »Mit der habe ich gerade nähere Bekanntschaft gemacht.« Er gestattete sich ein leichtes Grinsen. »Jemand soll herausfinden, woher die stammt und wie häufig sie ist.«
Diese Jugendlichen zu identifizieren war eine Sache, doch zu beweisen, dass sie etwas mit dem Mord an Max zu tun hatten, eine gänzlich andere.
Um drei Uhr morgens ließ Dennis den Kopf auf das Kissen sinken. Fünf Minuten später war er wieder auf den Beinen und lief schwitzend in seinen Boxershorts auf und ab. Dabei überlegte er, ob sie wohl wach war und ob er sie anrufen sollte. Weinte sie einsam in ihrem Bett vor sich hin oder hielt jemand sie in den Armen und tröstete sie? Vielleicht streifte sie auch durch die Straßen von London, um den Mörder ihres Sohnes ausfindig zu machen.
Nein, wie er sie kannte, war sie allein, saß einfach da und starrte schweigend vor sich hin. Bestimmt hatte sie den ganzen Tag nichts gegessen, nippte nur hin und wieder an einem Glas Wasser und wirkte nach außen hin gelassen und beherrscht. In ihrem Kopf jedoch herrschte Aufruhr. Selbstvorwürfe und Rachegefühle wechselten sich ab und ließen sie von nun an nicht mehr zur Ruhe kommen. Denn in einem war sich Dennis sicher: Carrie würde nicht lockerlassen, ehe sie wusste, wer ihrem Sohn das angetan hatte.
»Niemals«, hatte sie einmal gesagt, als sie beide erschöpft zwischen den zerwühlten Laken lagen, »niemals werde ich zulassen, dass mir jemand mein perfektes Leben kaputt- macht.«
Carrie trank einen Schluck Wasser. Es war mitten in der Nacht. Schon vor Stunden hatte sie alle fortgeschickt. Mit den vielen Leuten um sie herum – Leah, den Polizisten, Brody und später noch dieser Fiona – war ihr alles zu real, zu schmerzhaft, zu unerträglich geworden.
Als sie dann allein war, versuchte sie, die Wirklichkeit mit aller Macht zu verdrängen. Sie wiegte sich in der Illusion, sie sei wegen einer Magenverstimmung aufgewacht – warum sollte sie sonst solche Bauchschmerzen haben? –, habe etwas dagegen eingenommen und sich dann ans offene Fenster gesetzt, um die kühle Nachtluft zu atmen. Dann stellte sie sich vor, sie sei ein Kind an Heiligabend, das schlaflos vor Aufregung der Bescherung entgegenfieberte.
Plötzlich bildete sie sich ein, das alles wäre nicht geschehen, wenn sie und Brody noch zusammen wären. Sie stellte sich vor, wie sie darauf wartete, dass er nach einer mehrwöchigen Tagung in den USA nach Hause kam. Die Aussicht darauf, dass sein warmer Körper, den er mit Sport und gesunder Ernährung so fit hielt, sich bald wieder an sie schmiegte, ließ sie nicht schlafen. Und wenn er nach der
Weitere Kostenlose Bücher