Der fremde Sohn (German Edition)
den Jungen in ein anderes Vernehmungszimmer. Er hatte gehofft, die beiden würden sich gegenseitig zum Reden animieren, doch das Gegenteil war der Fall gewesen. Daher wollte er die entscheidende Frage jedem von ihnen einzeln stellen.
Er ließ den Jungen Platz nehmen, blieb selbst aber stehen. »Wo warst du heute Morgen zwischen zehn und elf?«
Driscoll zuckte die Achseln und starrte mit zusammengezogenen Augenbrauen an die Decke. »Schule, Mann«, sagte er.
»Welche Fächer?«
Er verzog das Gesicht. »Kann mich nicht mehr erinnern. Vielleicht Physik.«
»Aber du warst wirklich in der Schule?«
»Na klar. Ich bin ein braver Junge.« Er feixte. »Fragen Sie doch Warren Lane. Das ist mein Kumpel.«
Dennis nickte und ließ ihn in der Obhut eines Beamten. Dann ging er wieder nach nebenan, um Samms die gleiche Frage zu stellen. Jess, die neben dem Jungen stand, wirkte jetzt müde.
Samms blickte zu Boden. »Ich und Owen haben blaugemacht, Mann.«
»Du und Owen Driscoll habt also heute Morgen die Schule geschwänzt?«, fragte Dennis nach. »Und dieser Warren war auch dabei?«
»Ja. Wir sind … einkaufen gegangen.«
»Den ganzen Morgen?«
»Ja«, antwortete Samms.
»Stecken Sie die beiden für eine Stunde in eine Zelle«, sagte Dennis leise zu Jess und fasste sie am Arm, bevor sie widersprechen konnte.
Herbst 2008
E r wusste nicht mehr, wie lange sie auf dem Bett gelegen hatten. Eine Stunde oder zwei, vier, zehn? Vielleicht waren es auch nur ein paar Minuten gewesen, jedenfalls lange genug, dass seine gesamte Kindheit vor seinem inneren Auge vorüberzog. Vielleicht war er im Begriff, sich zu verlieben.
Max starrte an die nikotingelbe Decke im Schlafzimmer seines Vaters und versuchte, sich das andere Haus ins Gedächtnis zu rufen. Dabei klammerte er sich an die wenigen kostbaren Erinnerungen, die er noch hatte, als seien es Kunstwerke aus hauchdünnem Kristall.
Damals waren seine Eltern völlig anders gewesen. Sein Vater hatte Bärenkräfte, er hob Max mit Leichtigkeit hoch, und es kam ihm so vor, als könne er die ganze Welt in seinen Händen halten. Am besten hatte es Max gefallen, wenn sein Vater ihn kräftig an den Rippen kitzelte und ihn anschließend über die Schulter legte, um mit ihm zum Fußballspielen in den Garten zu gehen.
Diese Hände waren jetzt meist damit beschäftigt, eine Zigarette zum Mund zu führen oder sich an der Wand entlang zum Bad oder zur Küche zu tasten. Manchmal hatten sie Kreideflecken von den Vorlesungen oder tippten mit einer Geschwindigkeit auf der Tastatur des speziell eingerichteten Computers, dass Max nur staunen konnte. Bei anderen Gelegenheiten, wenn Max seinen Vater zur Arbeit begleiten durfte, sah er dieselben Hände im Gespräch mit Fiona oder einem Mitarbeiter wild gestikulieren. Es brach ihm fast das Herz, wenn er daran dachte, dass diese Hände nun die Aufgaben der Augen erfüllen mussten.
»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte er Dayna, die kleine Laute der Zufriedenheit von sich gab. Vielleicht war sie eingedöst.
»Ja. Ich denke bloß nach.«
»Ich auch«, sagte Max. Sich an seine Mutter von früher zu erinnern fiel ihm schwerer, vielleicht weil sie sich so viel stärker verändert hatte, obwohl doch sein Vater erblindet war.
Ihre Hände waren in seiner Erinnerung weder mit Sicherheit noch mit Spaß verbunden. Seine Mutter hatte ihn zwar nie geschlagen, ihn jedoch auch nicht in den Arm genommen oder mit ihm gespielt oder … Sie hatte für seine Mahlzeiten, Kleidung und Körperhygiene gesorgt, niemand konnte behaupten, sie vernachlässige ihren Sohn. Ihr Haus war immer gepflegt, sie selbst freundlich und heiter. Sie hatte stets alles unter Kontrolle.
»Gibt es bei euch zu Hause manchmal, na ja, du weißt schon, Streit?«, wollte Max wissen. Seine Hand, die noch immer auf Daynas Bein lag, war schon ganz heiß.
Sie lachte laut auf. »Allerdings. Frag lieber, ob es irgendwann mal keinen Krach gibt. Die Antwort wäre nein. Außer wenn Kev sich zugedröhnt hat und Mum beim Bingo ist. Dann spielen Lorrell und ich einfach zusammen, und ich lese ihr was vor. Dann ist es richtig friedlich.«
Dayna war wirklich ganz anders als die Mädchen, die er bisher kennengelernt hatte. »Weißt du, manchmal kann es einem auch zu viel werden, wenn alles zu …«
»Zu gut ist?«, beendete sie den Satz für ihn.
»Nein, nicht gut.« Max überlegte. Verzweifelt sehnte er sich danach, sich aufzurichten, Dayna an sich zu ziehen und sie fest in den Armen zu halten. »Zu
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