Der fremde Sohn (German Edition)
die leicht abschüssige Straße bis hinunter zum Bahndamm. Die Straßenzüge hier wirkten bei weitem nicht so heruntergekommen wie das Straßendreieck, in dem die Schule lag, die ihr Sohn sich ausgesucht hatte.
Da kein freier Parkplatz zu finden war, stellte sie den Wagen auf dem Bordstein im absoluten Halteverbot ab. Es kümmerte sie nicht, ob sie einen Strafzettel bekam. Draußen roch es nach Döner und scharfer Soße. Carrie wurde schon wieder übel. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihr von Adrenalin, Tee und Wut aufgebrachter Magen jemals wieder richtig funktionieren würde.
Sie klopfte an die Tür von Nummer vierundzwanzig, wartete und wollte gerade ein zweites Mal klopfen, da öffnete eine junge Frau. »Ja?« Sie trug einen kurzen Bademantel, ihr gebleichtes Haar war zerzaust.
»Ist Tim da?«, fragte Carrie. »Tim Lockhart.«
»Wer will das wissen?«, entgegnete die Frau kurz angebunden. Offensichtlich schätzte sie es nicht, von Fremden gestört zu werden. Dabei musterte sie Carrie flüchtig mit fragend gerunzelter Stirn. Dann schüttelte sie kurz den Kopf. Nein, in dieser Straße klopften keine Fernsehstars an die Tür.
»Ich bin die Mutter eines Jungen, der in seiner Klasse ist. War.« Carrie konnte sich kein Lächeln abringen.
»Dann kommen Sie rein.« Die Frau ließ Carrie in der Diele stehen und ging nach oben. Kurz darauf kam ein Mann mit verschlafenen Augen die Treppe herunter. Das Haar stand ihm in Büscheln vom Kopf ab. Er rieb sich das Gesicht und blinzelte Carrie ungläubig an.
»Mr Lockhart?«
»Ja. Was kann ich für Sie tun?« Der Mann, der bessere Manieren zu haben schien als seine Frau, ging voraus in das kleine Wohnzimmer.
»Ich bin die Mutter von Max Quinell.«
Mr Lockharts Miene wurde mit einem Schlag ausdruckslos, als sei das die angemessene Reaktion in Gegenwart einer Frau, die gerade ihren Sohn verloren hatte. Er schluckte hörbar und stieß den Atem aus, dann ließ er sich auf ein braunes Sofa fallen und lud Carrie mit einer flüchtigen Handbewegung ein, ebenfalls Platz zu nehmen. Er hatte den Kopf in die Hände gestützt, doch noch immer verriet sein Gesicht nur, dass er schlecht geschlafen hatte.
»Es tut mir so leid, Mrs Quinell.«
Carrie klärte ihn nicht über seinen Irrtum auf. Es schien ihr, als würde jedes Mal, wenn jemand ihr sein Beileid aussprach, der Kloß in ihrem Hals ein wenig größer, bis sie daran erstickte.
»Ich möchte mit Ihnen über Max sprechen.«
»Selbstverständlich.« Die Frau, die sich mittlerweile angezogen hatte, warf im Vorbeigehen einen neugierigen Blick ins Zimmer. Tim rückte auf die vorderste Kante des Sofas. »Ich war gestern krank, aber der Schulleiter hat mich abends angerufen.« Er hustete, als müsse er beweisen, dass er wirklich krank war. »Und in den Nachrichten habe ich es natürlich auch gehört.«
»Die habe ich nicht gesehen.« Carrie hatte die Reporter bemerkt, die vor ihrem Haus auf ein Bild oder gar ein paar Worte des gramgebeugten Stars warteten. Leah hatte kurz mit ihnen gesprochen, doch Dennis hatte alle Jalousien und Vorhänge zugezogen und ihr geraten, sich nicht zu zeigen. »Gestern habe ich kaum wahrgenommen, was um mich herum geschah«, fuhr Carrie mit schwacher Stimme fort. Sie versuchte, sich zu besinnen, was sie eigentlich hier wollte. »Wie war Max in der Schule, Mr Lockhart?«
Tim setzte sich zurecht, als müsse er beim Elternsprechtag Auskunft über die Noten seiner Schüler geben. »Er hätte einer meiner besten Schüler sein können. Für Literatur zeigte er echtes Interesse.« Er senkte die Stimme nicht – es schien, als habe er noch etwas zu sagen.
Carrie entging das nicht. »Aber …?«, half sie nach.
»Aber er schwänzte häufig den Unterricht. Es ist ein entscheidendes Schuljahr und –«
»Er hat Stunden versäumt?«, fragte Carrie bestürzt. »Warum habe ich nichts davon erfahren?«
»Für so etwas ist normalerweise der Schulleiter zuständig, Mrs Quinell.«
Carrie wollte wieder auf den Grund ihres Besuches zurückkommen, doch es tat so weh. Jeder Atemzug brannte ihr in der Brust. »Warum hat er die Schule geschwänzt? Wo, um Himmels willen, war er?« Sich ihren Sohn als Schulschwänzer vorzustellen, fiel ihr schwer. Am Denningham College hätten sie so etwas nicht durchgehen lassen. »Ich meine …«
»Er war nicht der einzige Schüler, der es vorzog, in den Geschäften oder im Park herumzuhängen, statt zur Schule zu gehen. Sie rauchen, trinken, essen und kiffen. Solche Sachen
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