Der fremde Sohn (German Edition)
um Sie kümmere. Max war immer froh, wenn ich hier war.«
»Tatsächlich?«
»Sicher. Ich habe es ihm angesehen. Das Haus war ja manchmal so schrecklich leer.«
Carrie wurde ganz schwindlig. Mein Gott, dachte sie, wie soll ich nur mit dieser Schuld leben. Noch mehr Schuld. »Ich war nicht für ihn da.«
»Sie waren eine gute Mutter.« Marthas Stimme hallte in dem großen Raum wider. Beide wussten, dass sie log. Dass sie Carrie bloß schonen wollte. »Ich mache Ihnen einen Tee.«
Carrie nickte. In diesem Moment klingelte ihr Handy.
»Dennis«, sagte sie. »Nein, ich habe nicht mehr geschlafen.«
Ihre baumelnden Füße stießen gegen die Fußstütze des Hockers. Die Zehennägel waren lackiert. Unwillkürlich musste sie daran denken, dass Max noch gelebt hatte, als sie sich pediküren ließ. Während ihre Nägel rosa lackiert wurden, hatte ihr Sohn noch geatmet.
»Und?« Carrie versteifte sich. »Hast du sie verhaftet?« Sie wurde rot, dann wieder bleich. »Warum nicht?« Als sie hörte, dass es ein falscher Alarm gewesen war, sank sie in sich zusammen. Ihre Schultern beugten sich wie unter einer schweren Last. »Nein, Detective, stell dir vor, ich weiß nicht, was ich tun soll«, fauchte sie. »Was würdest du denn vorschlagen? Einen kleinen Urlaub vielleicht oder eine Woche in einem Wellnesshotel? Oder vielleicht sollte ich einfach wieder an die Arbeit gehen und die ganze Sache vergessen.« Sie war außer sich vor Wut. Dann schwieg sie für einen Moment und hörte zu. »Tu mir nur einen Gefallen, Dennis: Bring den Mörder meines Sohnes zur Strecke.« Fluchend beendete sie das Gespräch und knallte das Telefon auf den Tresen.
Dann brach sie in Tränen aus und konnte gar nicht mehr aufhören zu schluchzen.
Martha bestand darauf, dass Carrie sich umzog. Duschen war zu anstrengend, aber eine saubere Bluse, eine bequeme Leinenhose und ein weicher Pullover gaben ihr ein winziges Stück der Normalität zurück, die längst vergangen und unerreichbar schien.
»Also, meine Liebe, jetzt essen Sie das hier.« Mit diesen Worten setzte Martha ihr einen Teller mit Rührei und Toast vor. Carrie starrte darauf, als sei es vergiftet. »Sie können doch schließlich nicht von Luft leben, oder?« Martha stellte eine Tasse Tee auf eine Untertasse und rührte einen Löffel Zucker hinein, obwohl Carrie nie Zucker zum Tee nahm.
Martha war wirklich eine liebe Frau. Carrie schämte sich, dass sie das nie zuvor bemerkt hatte.
»Danke.« Da ihr schon ganz flau im Magen war, aß sie.
»Was sagt die Polizei? Was unternehmen sie jetzt?«, fragte Martha schließlich, nachdem sie Carrie genügend Zeit zum Essen gegeben hatte.
»Gestern Abend haben sie zwei Jungs aufs Polizeirevier geholt.«
»Gut so.«
»Und dann haben sie sie wieder laufen lassen.« Carrie grub die Fingernägel in die Handfläche und genoss den Schmerz. »Sie haben sie gefasst und doch wieder freigelassen.«
»Aber vielleicht waren es ja nicht die Richtigen. Vielleicht konnten sie der Polizei nur Hinweise liefern.«
Als Martha Carries Finger berührte, zog diese ihre Hand weg. Es war ihr unbehaglich.
»In den Aufnahmen der Überwachungskamera war zu sehen, wie mehrere Jungen aus der Richtung der Schule davonrannten. Sie lassen die Bilder vergrößern.«
»Sehen Sie, meine Liebe, es wird doch etwas unternommen. Sie werden den Täter im Handumdrehen schnappen. Die Polizei ist heutzutage so tüchtig.«
Carrie nickte, dachte aber daran, wie oft Dennis alle Vorsicht hatte fallen lassen und ihr von Pfusch und Stümperei in den eigenen Reihen erzählt hatte. »Ich muss mit diesem Lehrer reden. Max’ Englischlehrer.« Sie erhob sich und holte ihre Tasche und die Schlüssel. Es musste endlich vorangehen. Sie zweifelte, ob Dennis und sein Team herausfanden, was wirklich hinter diesem Fall steckte – die Beweggründe der Täter. Wenn sie dahinterkam, davon war sie fest überzeugt, würde es sie zu Max’ Mörder führen. Schließlich war es ihre Spezialität, Dingen auf den Grund zu gehen, das hatte sie jahrelang allwöchentlich bewiesen.
»Es wäre mir lieb, wenn Sie hierblieben«, sagte sie mit einem flüchtigen Lächeln zu Martha. »Und Max hätte es auch gefallen.«
»Dann gehe ich nur kurz nach Hause und hole meine Sachen.« Sie stand auf und räumte das Geschirr ab, während Carrie hinausging. »Passen Sie auf sich auf, meine Liebe!«, rief sie ihr noch nach.
Denby Terrace war eine unauffällige Wohngegend. Typische Reihenhäuser aus rotem Backstein säumten
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