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Der fremde Sohn (German Edition)

Der fremde Sohn (German Edition)

Titel: Der fremde Sohn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam Hayes
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eben.« Tims Lockharts Ton war ungezwungen, als störe er sich nicht besonders daran. Er war jung, nach Carries Einschätzung Ende zwanzig, und es war wohl noch nicht allzu lange her, dass er genau dasselbe getan hatte.
    »Ich weiß, dass Max noch nicht lange an der Milton Park war, und ich weiß auch, dass es ihm schwerfiel, sich anzupassen«, fügte der Lehrer hinzu. »Aber wenn es Sie tröstet: Er war nicht ganz allein. Ich habe ihn ziemlich oft mit einem Mädchen zusammen gesehen. Sie ist auch in meinem Englischkurs. Genau so ein helles Köpfchen. Sie wollte ihn immer dazu überreden, zum Unterricht zu kommen und seine Hausaufgaben zu machen.«
    »Wer ist sie?« Ihr Sohn hatte eine Freundin gehabt, von der sie nichts wusste.
    »Normalerweise gebe ich die Namen von Schülern nicht heraus –«
    »Meinen Sie, ich sitze normalerweise in den Wohnzimmern fremder Leute und rede über meinen verstorbenen Sohn?« Sie beugte sich vor und starrte den Mann eindringlich an. Für einen Moment kam die alte Carrie Kent zum Vorschein.
    Mr Lockhart nickte und zog den Bademantel ein wenig enger um seine Brust. »Dayna Ray. Sie wohnt irgendwo in der Gorse-Vale-Siedlung. Wenn Sie hingehen wollen, sollten Sie besser jemanden mitnehmen.«
    »Vielen Dank«, sagte Carrie und schickte sich an zu gehen. In dem Haus war es stickig, und sie brauchte frische Luft.
    »Warten Sie.« Der Lehrer erhob sich und ging durch eine Mattglastür ins Esszimmer. Der Tisch dort war mit Stapeln von Büchern und Papieren bedeckt. Er blätterte etwas durch, das wie ein Packen handgeschriebener Aufsätze aussah. »Ich finde, das sollten Sie haben. Max’ letzter Aufsatz.« Mit gesenktem Kopf reichte er ihr die beiden mit krakeliger blauer Kugelschreiberschrift bedeckten DIN-A4 -Blätter. »Wir nehmen gerade Romeo und Julia durch. Ich habe ihm eine Eins gegeben. Seine Darstellung war, nun ja, geistreich und beunruhigend zugleich.«
    Carrie nahm die Arbeit und schloss für eine Sekunde die Augen. Dann nickte sie und ging. Sie wusste, es würde eine Weile dauern, bis sie den Aufsatz lesen konnte.
    In Gorse Vale wimmelte es von Kindern, die meisten nicht älter als sechs oder sieben, die außer Rand und Band mit ihren Rädern und Rollern die Straßen unsicher machten, während ihre Mütter zweifellos im Haus saßen und Frühstücksfernsehen schauten, in einer Hand eine Kippe, in der anderen eine Bierflasche. Carrie blieb stehen und betrachtete nachdenklich die Szene. Trug sie mit ihrer Show wirklich dazu bei, die sozialen Probleme zu lösen?
    »Warum tust du das?« Brody klang erschöpft. Sie hatte ihn vor einer halben Stunde abgeholt und ihn gedrängt, sie zu Max’ Freundin zu begleiten. Er war unwillig gewesen, weil es ihm, anders als am Vortag, sinnlos erschien, ohne Wissen der Polizei aktiv zu werden. Er wollte am liebsten einfach nur daliegen und rauchen. Zu mehr fühlte er sich nicht imstande.
    »Ich muss etwas unternehmen«, erwiderte Carrie, die sich bei ihm untergehakt hatte. »Max hatte hier eine Freundin, und ich habe nichts davon gewusst.«
    »Meinst du, es nutzt etwas, herzukommen und dieses Mädchen zu besuchen?«
    »Wenn du das hier sehen könntest, wüsstest du, was ich meine.«
    Brody zog seinen Arm weg, legte die Hand über die Augen, als wolle er sie gegen die Sonne abschirmen, und sagte: »Mir gefällt’s.« Er kniff die Augen zusammen.
    »Hier sieht es aus wie in dem Loch, wo du wohnst.« Carrie setzte sich wieder in Bewegung. Sie wusste, Brody würde dem Klang ihrer Schritte folgen, ohne jedoch zu wissen, wo die Bordsteinkante war oder ein Fahrrad mit drehenden Reifen auf der Seite lag. »Nur dass du die Wahl hast.«
    Diesmal war es Brody, der stehen blieb. »Du kannst es einfach nicht ertragen, wie?«
    »Was denn?«
    »Dass jemand, mit dem du mal verheiratet warst, in einer Mietskaserne lebt. Dass der Vater deines Sohnes in einem Dreckloch wohnt.«
    »Das ist doch albern.« Carrie fasste ihn am Arm und zog ihn weiter. Sie wollte unbedingt herausfinden, wo dieses Mädchen wohnte, und brauchte dabei Unterstützung.
    »Gib’s doch zu.«
    »Da ist nichts zuzugeben.« Ihre Stimme versagte. Sie wollte dieses Gespräch nicht führen. Weder jetzt noch sonst irgendwann. Brody blieb wie angewurzelt stehen. Carrie seufzte – sie fühlte sich so schwach. Normalerweise hätte sie ihm dieses provokante Gehabe nicht durchgehen lassen, aber nichts war mehr normal.
    »Gib’s zu, es hat dich fast umgebracht, als du meine Wohnung gesehen

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