Der fremde Sohn (German Edition)
hast.«
Carrie schluckte. Sie wusste, dass Brody jedes winzige Zögern wahrnahm. Über ihnen brummte ein Flugzeug dahin. »Hast du es deswegen getan? Hast du all die Jahre da gehaust, nur um mir eins auszuwischen?« Sie lachte bitter auf. Dann packte sie sein Handgelenk und schüttelte es. »Du bist schon blind geboren, Brody Quinell.«
Carrie trat zu einer Gruppe Mädchen, um sie zu fragen, ob sie Dayna Ray kannten. Sie musste sich eingestehen, dass Brody recht hatte – es hatte sie tatsächlich gewurmt, ihren Exmann in dieser Bude zu sehen. Sie ärgerte sich noch immer, wenn sie daran dachte, wo Max sich aufgehalten hatte, wenn er bei seinem Vater war. Mit einem Ruck riss Brody sie herum. Sein Gesicht war ganz dicht vor ihrem.
»Nein, wenn hier einer blind ist, dann du, Carrie Kent. Dein Leben lang warst du blind für alles, was direkt vor deiner Nase lag. Aber um das zu erkennen, bist du zu dumm.« Seine eben noch wütende Stimme klang auf einmal ganz kläglich. Er schluchzte. »In diesem Leben ist nichts vollkommen. Gar nichts. Und auch wenn es dich vielleicht überrascht: Du bist, verdammt noch mal, nicht besser als alle anderen.«
Carrie kniff die Augen zu. Sie konnte es nicht ertragen, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen.
Herbst 2008
D ayna hatte gerade an ihn gedacht, als seine SMS kam. Gedankenübertragung, dachte sie grinsend und wälzte sich auf die andere Seite. Er wollte sie an der Imbissbude treffen.
Sie stand auf, räumte ihre Bücher zusammen, heftete ihren Aufsatz im Ringbuch ab und schlich über den Treppenabsatz ins Bad. Kev schlief in seinem Bett. Wenn sie ihn weckte, würde es wieder Theater geben. Sie drehte den Wasserhahn nur ganz wenig auf und versuchte, sich unter dem tröpfelnden Strahl die Tinte von den Fingern zu waschen. Mit einem Blick in den Spiegel stellte sie fest, dass ihr Lidstrich verschmiert war. Also leckte sie ihren Finger an und rieb an ihrem Auge herum. Jetzt sah es aus, als habe sie geweint. Sie fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und wünschte, sie könnte es sich leisten, zum Friseur zu gehen, bloß zu dem kleinen Salon an der Ecke, oder sich zumindest eine Packung Haartönung für den Ansatz zu kaufen.
Leise ging Dayna die Treppe hinunter und schlüpfte in ihre Jacke. Vom Wohnzimmer blickte Lorrell sie an. Ihre großen Augen flehten: Geh nicht weg . In der Küche stand ihre Mutter an das Spülbecken gelehnt und sprach mit gedämpfter Stimme ins Telefon. Das war an sich schon seltsam, da sie sonst nur herumbrüllte.
Einem verrückten Impuls folgend, gab Dayna Lorrell einen Wink mitzukommen. Dabei legte sie einen Finger an die Lippen. Psst . Max würde wahrscheinlich nicht begeistert sein, aber sie konnte Lorrell unmöglich hierlassen, wo die Kleine eine Tracht Prügel oder einen Tag mit knurrendem Magen zu erwarten hatte, weil niemand sich die Mühe machte, ihr etwas zu essen zu geben.
Dayna schob Lorrells Füße in die zu kleinen Schuhe und dirigierte ihre Arme in die Ärmel des schmuddeligen Mantels. Das Gesichtchen der Kleinen leuchtete vor Staunen.
»Abenteuer«, flüsterte sie ihrer großen Schwester ins Ohr, so dass Dayna ein Schauer über den Rücken lief.
Sie nickte und nahm Lorrell an der Hand. Sie würden sich mit Max treffen, und das war tatsächlich ein Abenteuer, denn wenn Dayna mit ihm zusammen war, hatte sie das Gefühl, als könnte alles Mögliche geschehen.
Er wartete vor der Imbissbude auf sie. Sie lächelte scheu, als er sich bei der Begrüßung zu ihr neigte, und rechnete mit einem Kuss. Doch dann bemerkte er Lorrell und stutzte.
»Hallo, du«, sagte er zu ihr. Es schien ihn nicht im Geringsten zu stören, dass Dayna ihre kleine Schwester mitgebracht hatte. Im Gegenteil, er freute sich.
»Lorrell, das ist Max. Kannst du Max sagen?« Dayna nahm die Hand des Kindes und streckte sie ihm zur Begrüßung hin, doch als Max sie nehmen wollte, zog die Kleine sie weg und schüttelte den Kopf. »Normalerweise ist sie nicht so schüchtern.«
Die drei betraten die Imbissbude und studierten die Tafel mit dem Speisenangebot. Max sagte, er wolle sie einladen.
»Was hast du heute so gemacht?« Max stellte sich so dicht neben Dayna, dass sich ihre Arme berührten. Ihre Finger prickelten, so gern hätte sie seine Hand genommen, doch sie traute sich nicht, den ersten Schritt zu tun.
Stattdessen antwortete sie achselzuckend: »Hab heute Morgen ein bisschen an meinem Aufsatz geschrieben. Nachts um zwei ist mein Stiefvater nach Hause gekommen und hat
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