Der fremde Sohn (German Edition)
des Live-Interviews«. Sie wurde von Glen McGowan gehalten, einem aalglatten Moderator, dessen beliebte Nachmittagstalkshow auf einem Privatsender Millionen gelangweilter Hausfrauen regelmäßig einschalteten. Es ärgerte Carrie, dass sie nicht hingehen konnte. »Dass die Beerdigung auch ausgerechnet heute sein muss«, murrte sie.
»So was sagt man doch nicht, Carrie. Es ist schließlich dein Vater.« Leah warf ihrer Freundin einen schwarzen Pullover zu, doch Carrie schleuderte ihn zurück.
»Schwarz auf einer Beerdigung ist blöd. Ich ziehe das hier an.« Sie zog ein knallig pinkfarbenes Hemd vom Bügel und schlüpfte hinein.
»Das kannst du nicht machen, Carrie. Das ist respektlos.«
»Er hat mich auch nie respektiert.« Sie knöpfte sich die Manschetten zu und zog den einzigen Mantel über, den sie besaß – aus dunkelblauer Wolle mit riesigen Knöpfen und einem breiten Kragen. Mittlerweile war es November und die Luft herbstlich kühl. »Ich würde lieber in die Vorlesung gehen und mir den ollen Glen McGowan anhören.«
»Viel wirst du nicht verpassen.« Leah half ihrer Freundin, den Schal zu binden. Dann fasste sie sie an den Schultern und blickte sie an. Sie hätte gern etwas Tröstliches gesagt, brachte es aber nicht über sich.
»Du kannst mir ja deine Mitschrift geben. Ich finde McGowan gut, aber ich weiß, dass ich es besser könnte. Wenn wir mal reich und berühmt sind, laden wir ihn in unsere Show ein.«
»Ach Carrie«, sagte Leah seufzend und lehnte die Stirn leicht an Carries Schulter. »Wenn wir mit der Uni fertig sind, werden wir uns wie Tausende anderer auch erst mal einen Job suchen müssen und in der Zwischenzeit bei McDonald’s unsere Kenntnisse im Burgerbraten vertiefen.«
»Du vielleicht.« Carrie strich Leah eine lose Haarsträhne hinters Ohr. »Wenn du dich damit zufriedengibst, dich für den Rest deines Lebens mit dem Strom treiben zu lassen. Ich weiß genau, was ich will.«
»Vielleicht kann ich ja bei dir aufs Trittbrett aufspringen. Ich beneide dich jetzt schon«, erwiderte Leah und schloss die Augen, als Carrie ihr einen zärtlichen Kuss auf die Stirn drückte.
»Das hast du nett gesagt«, antwortete Carrie, griff nach ihrer Tasche und machte sich auf den Weg. Im Hinausgehen hörte sie, wie Leah erschrocken nach Luft schnappte, als ihr klarwurde, was sie gesagt hatte – ausgerechnet an solch einem Tag. Lachend ging Carrie die Treppe hinunter. Sie lachte noch immer, nun beinahe hysterisch, als der kalte Wind ihr ins Gesicht schlug und sie realisierte, dass sie ihren Vater niemals wiedersehen würde.
Während der Fahrt mit dem Taxi dachte Carrie über ihre Kindheit nach, als ginge es um eine Fremde. Dieses Kind war doch nicht wirklich sie gewesen, oder? Die Kleine, die ängstlich durch das Treppengeländer spähte, die beim Geräusch von Stiefelschritten eifrig aus dem Garten hereingetrippelt kam? Während die Straßenzüge am Fenster vorüberglitten, wanderten Carries Gedanken zurück in die Vergangenheit.
Niemand konnte Major Kent vorwerfen, er kümmere sich nicht um sein einziges Kind. Er sorgte dafür, dass seine Frau und Tochter immer eine warme Unterkunft, genug zu essen und etwas zum Anziehen hatten, und wenn er Urlaub hatte, fuhren sie zusammen nach Dorset oder Wales. Eines Tages, so versprach er ihnen, würden sie nach Frankreich reisen. Mit dem Hovercraft oder der Fähre. Es kam nie zu einer Fahrt über den Ärmelkanal, aber Caroline Kent vergaß dieses Versprechen nicht. Es war eins von den besseren. Sie kritzelte es unten auf die Liste in ihrem zerfledderten Notizbuch und überlegte an ihrem Bleistift kauend, wie viele Punkte sie dafür vergeben sollte.
»Acht«, sagte sie schließlich und zählte die Ziffern zusammen, die neben den übrigen Versprechen standen. Es machte insgesamt zweiundsiebzig und beim Nachrechnen neunundsechzig.
Sie hatte sich ein Kaninchen gewünscht. Carrie erinnerte sich noch an den Tag, als sie endlich den Mut aufgebracht hatte, darum zu bitten.
»Warte, bis er satt ist und seinen Wochenend-Sherry getrunken hat«, riet ihr die Mutter.
Die kleine Caroline nickte. Die anderen Kinder auf dem Stützpunkt hielten auch Haustiere. Simon hatte zwei Ratten und Kelly diese scheußliche Spinne. Im Vergleich dazu sollte ein Kaninchen doch kein Problem sein, dachte sie.
Schließlich brachte sie ihren Wunsch vor. »Ich hätte so gern ein Haustier.«
»Sei nicht albern«, sagte ihr Vater, ohne von seiner Zeitung aufzublicken.
Vielleicht, dachte
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