Der fremde Sohn (German Edition)
ihrem Namen darauf unter der Tür durchgeschoben. Sie hob ihn auf, während Leah sich auf das durchgesessene Sofa plumpsen ließ und Jenny und Tina ein paar Drinks machten.
»Es war unlogisch und abstoßend. Ich habe Gänsehaut bekommen.« Im Gegensatz zu den anderen, die ihre Mäntel über das nächstbeste Möbelstück geworfen hatten, hängte Carrie ihren ordentlich auf.
Leah warf ihr ein Kissen an den Kopf. »Ach, hör schon auf, du Spielverderberin. Uns hat es gefallen.« Sie streifte sich die Schuhe ab und riss eine Tüte Maischips auf, obwohl sie im Kino eimerweise Popcorn in sich hineingestopft hatten.
»Hier, zieh dir den rein.« Jenny reichte Carrie ein großes Glas Wodka Tonic, bis zum Rand mit Eiswürfeln und Zitronenscheiben gefüllt, damit es länger reichte. Das war ihr Freitagabendvergnügen: ein Besuch in der Pizzeria, im Kino oder auf der Eisbahn und danach eine Flasche vom billigsten Gin oder Wodka, den sie bekommen konnten, gestreckt mit Tonic light. Dann Klatsch und Tratsch bis drei, vier Uhr morgens und am nächsten Tag der unvermeidliche Kater. Dagegen half nur, am Samstagabend tanzen zu gehen und bis Montagmorgen keinen Gedanken an die Uni zu verschwenden.
»Ich fühl mich wie im Paradies«, erklärte Tina, ließ sich in ihren Sitzsack sinken und nippte an ihrem Drink. »Was hatte Mel eigentlich heute Abend vor?«, fragte sie Leah.
»Lernen natürlich«, erwiderte die mit gezwungenem Lächeln. Sie war traurig, dass ihre Freundin nicht da war. »Ich wollte sie einladen –«
»Ich muss zu Hause anrufen.« Carries Stimme klang kalt und hart. Sie zerknüllte den Zettel und steckte ihn in die Tasche. Dann kramte sie in ihrer Geldbörse nach ein paar Münzen, ging mit raschen Schritten hinaus und lief die Treppe hinunter in die Eingangshalle, wo es ein Münztelefon gab.
Auf den letzten Stufen wäre sie beinahe gestolpert, konnte sich jedoch gerade noch am Treppengeländer festhalten. Dabei brach sie sich einen Fingernagel ab. Sie griff nach dem verhedderten Telefonkabel und zog, innerlich bebend, den klebrigen Hörer zu sich heran. Insgeheim wusste sie es bereits.
Sie schob die Fünfzig-Pence-Münze in den Schlitz und wählte. »Na los, mach schon …«
Zu Hause anrufen. Dringend!, hatte in einer fremden, krakeligen Handschrift auf dem Zettel gestanden. Wahrscheinlich hatte es einer von den Jungs aus dem Erdgeschoss geschrieben, vielleicht derjenige, der immer mit seinem Fahrrad den Flur zustellte.
»Hallo? Mum?«
Carrie lauschte und nickte automatisch. Dann ließ sie sich langsam auf den kleinen Korbstuhl sinken, den der Vermieter unter dem Telefon platziert hatte.
Das Blut schoss ihr in die Wangen, und ein reißender Strom von Bildern rauschte durch ihren Kopf.
»Er hat nicht gelitten«, hörte sie ihre Mutter sagen. »Es war im Nu vorbei. Und als der Rettungswagen kam, war es schon zu spät, mein Schatz.«
Carrie musste husten und glaubte, jeden Moment in Tränen auszubrechen, doch es kamen keine. Mit leiser Stimme berichtete ihre Mutter ihr die Einzelheiten: wie sein Gesicht blaurot angelaufen war, wie sie eine Herzmassage versucht und Sauerstoff und Medikamente in ihn hineingepumpt hatten. Carrie hörte sich alles an und versuchte sich zu entsinnen, wann sie ihn zuletzt gesehen hatte und worüber sie gesprochen hatten.
»Kommst du nach Hause?«, fragte ihre Mutter.
»Ja, zur Beerdigung«, antwortete Carrie. Ihre Mutter würde sich in der ersten Zeit nach dem Tod ihres Mannes sicher sehr einsam fühlen. Allmählich würde sie sich dann an die Vorstellung gewöhnen, von nun an allein zu leben – ein freudloses, spartanisches Leben, nicht viel anders, als sie es bisher geführt hatte. Doch zunächst gab es einiges zu regeln und zu organisieren. So war sie wenigstens beschäftigt, dachte Carrie gleichgültig und verabschiedete sich schließlich mit einem »Tschüs, Mum.«
Sie stieg so langsam die drei Stockwerke hinauf, dass sie kaum außer Atem war, als sie die Wohnungstür öffnete. Drinnen empfingen sie der süßliche Geruch nach Alkohol und das fröhliche Geplänkel ihrer Freundinnen. Doch als sie Carrie sahen, verstummten sie.
Carrie verzog unwillig das Gesicht, ohne weiter darauf zu achten, dass sich ihr Herz wie ein Stein in der Brust anfühlte. »Na, das kommt mir aber jetzt sehr ungelegen«, bemerkte sie lakonisch und kippte ihren Drink hinunter.
Wegen der Beisetzung musste sie einige Veranstaltungen ausfallen lassen, unter anderem eine Vorlesung über die »Dynamik
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