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Der fremde Tibeter

Titel: Der fremde Tibeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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verhaften lassen.« Der Bluff war alles andere als unglaubhaft. In Tibet waren mehr chinesische Atomwaffen stationiert als in jeder anderen Region des Landes.
    Die Frau starrte ihn schweigend an, aber ihre Augen funkelten noch immer herausfordernd. Der Amerikaner ließ die Mundharmonika sinken und antwortete auf englisch, obwohl er Tan offensichtlich verstanden hatte. »Nur zu«, sagte er und streckte die Handgelenke aus, »verhaften Sie uns. Das wird die Vereinten Nationen mit Sicherheit interessieren.«
    Oberst Tan warf dem Amerikaner einen gereizten Blick zu, flüsterte einem seiner Offiziere etwas ins Ohr und lächelte die Frau dann mürrisch an. »So sollten Freunde sich nicht benehmen. Rebecca, nicht wahr? Bitte, Rebecca, machen Sie sich bewußt, in welche Schwierigkeiten Sie sich und Ihre Begleiter gerade bringen.«
    Jemand packte Shan am Arm und zerrte ihn auf den Wagen zu, in dem nach wie vor Yeshe und Feng saßen. »Oberst Tan sagt, ihr müßt verschwinden. Sofort«, drängte der Soldat.
    Shan ließ sich zu dem Auto führen, aber an der Tür riß er sich los und drehte sich noch einmal zu der merkwürdigen Frau um. Zunächst warf sie ihm nur einen flüchtigen Blick zu. Dann wandte sie sich erneut in seine Richtung und musterte ihn nachdenklich, vielleicht weil ihr bewußt wurde, daß Shan an diesem Ort der einzige Chinese ohne Uniform war. Ihre grünen Augen ließen auf einen wachen, rastlosen Verstand schließen. Eine Frage schien sich in ihrer Miene zu manifestieren. Noch bevor Shan herausfinden konnte, ob diese Frage sich auf hn bezog, wurde er in den Wagen gestoßen.
    Auf seinem Tisch im Gebäude der Gefängnisverwaltung erwartete ihn bereits eine Akte. Madame Ko hatte sie persönlich vorbeigebracht, und auf dem Umschlag stand »Bekannte Unruhestifter/Bezirk Lhadrung«. Es war eine alte Akte, die vom häufigen Gebrauch zahlreiche Eselsohren davongetragen hatte, und sie war in vier Kategorien unterteilt. Drogensüchtige Kultanhänger lautete die erste Überschrift. Sie ging auf die wunderliche Meinung der Polizei zurück, daß fanatische Rituale mit Drogenmißbrauch einhergehen würden. In den großen chinesischen Städten war man schon vor einigen Jahren wieder davon abgerückt. Jugendbanden. Die fünfzehn aufgeführten Personen waren allesamt älter als dreißig Jahre. Kriminelle Wiederholungstäter. Die Liste umfaßte jeden aus Lhadrung, der irgendwann in einem lao gai-Gefängnis gesessen hatte, fast dreihundert Namen. Kulturelle Agitatoren. Dies war bei weitem die längste Liste. Hinter jedem Namen wurde entweder ein gompa oder die Bezeichnung »nicht registriert« aufgeführt. Es handelte sich ausschließlich um Mönche. Viele davon hatte man vor einigen Jahren während der Daumen-Aufstände verhaftet. Ein Dutzend der nicht registrierten Mönche war mit einem zusätzlichen Eintrag versehen: Möglicher purba. Shan war verwirrt. Ein purba war ein ritueller Dolch, der bei tibetischen Zeremonien benutzt wurde. Er blätterte bis zum Ende der Akte weiter. Keine Liste der mordlustigen Schutzdämonen.
    Er nahm den Hörer des Telefons ab. Madame Ko meldete sich nach dem dritten Klingeln. »Sagen Sie dem Oberst, es wird noch eine weitere Autopsie nötig sein.«
    »Autopsie?«
    »Er muß Dr. Sung in der Klinik davon berichten.«
    »Ach, hätte ich das doch nur vorher gewußt«, seufzte sie. »Ich war nämlich gerade erst dort.«
    »Sie sind im Krankenhaus gewesen?«
    »Ich sollte etwas dort abliefern, also bin ich schnell hingegangen. Es war in Zeitungspapier und Plastiktüten eingewickelt. Damit der Kohl frisch bleibt, hat er gesagt.«
    Shan starrte den Hörer an. »Danke, Madame Ko«, murmelte er.
    »Gern geschehen, Xiao Shan«, sagte sie fröhlich und legte auf.
    Xiao Shan. Die Worte ließen ihn sich plötzlich einsam fühlen, denn er hatte sie schon seit vielen Jahren nicht mehr gehört. Seine Großmutter hatte ihn so genannt; es war die altertümliche Anrede für eine jüngere Person. Kleiner Shan.
    Er ertappte sich dabei, wie er hinaus ins Hauptbüro starrte und einem Arbeiter beim Anspitzen von Bleistiften zusah. Ihm war ganz entfallen, wie viele tausend kleine Dinge dort draußen zur täglichen Routine gehörten, und sei es nur das Anspitzen eines Bleistifts. Er biß die Zähne zusammen und kämpfte gegen die Frage an, die kein Gefangener im Gulag sich zu stellen wagte: War er in der Lage, jemals wieder dort draußen zu leben? Nicht, ob er je freigelassen würde, denn jeder Häftling mußte an eine

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