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Der fremde Tibeter

Titel: Der fremde Tibeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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zukünftige Entlassung glauben, sondern wer er sein würde, wenn man ihn freiließ. Alle kannten die Geschichten über einstige Sträflinge, die niemals wieder zurechtkamen, die zu verängstigt waren, um ihr Bett zu verlassen, oder die auf ewig gebeugt gingen, als trügen sie noch immer Ketten, so wie das Pferd, das nie wieder wegzulaufen versucht, nachdem man ihm einmal die Vorderbeine zusammengebunden hat. Warum gab es niemals Geschichten über Häftlinge, die sich nach der Freilassung erfolgreich wieder eingliedern konnten? Vielleicht weil so schwer zu verstehen war, was der Begriff Erfolg für einen Überlebenden des Gulags bedeutete. Shan erinnerte sich an Chojes letzte Worte zu Lokesh, nachdem die beiden dreißig Jahre in derselben Gefängnisbaracke zugebracht hatten. »Du mußt lernen, wieder du selbst zu sein«, hatte Choje gesagt, während Lokesh an seiner Schulter weinte.
    Er schlug seinen Notizblock auf. Auf dem letzten Blatt waren sie noch immer zu lesen. Der Name seines Vaters. Sein eigener Name. Ohne nachzudenken, zeichnete er ein weiteres Schriftzeichen, eine komplexe Figur, die mit einem Kreuz begann, in dessen Vierteln kleine Striche auf die Mitte wiesen. Sie standen für gedroschenen Reis und verbanden sich zu dem Piktogramm einer lebenden Pflanze über dem Herd eines Alchimisten. Zusammen bedeuteten sie Lebens-Kraft. Das war eines der Lieblingsideogramme seines Vaters gewesen. An dem Tag, als sie kamen, um ihm seine Bücher wegzunehmen, hatte er es auf die staubige Fensterscheibe gezeichnet. Choje hatte Shan das entsprechende Zeichen in tibetischer Schrift gelehrt. Aber Choje nannte es anders: die Unbeugsame Macht des Seins.
    Vor dem Tisch bewegte sich etwas. Shan klappte den Block zu und bedeckte ihn instinktiv mit den Händen. Es war aber nur Feng, der aufstand, weil Leutnant Chang sich näherte.
    Chang wies auf Shan und lachte. Dann beugte er sich zu Feng und sprach leise mit ihm. Shan starrte an ihnen vorbei ins Büro und sah den einfarbigen Gestalten bei ihren verschiedenen Tätigkeiten zu.
    Als er den Block wieder aufschlug, erinnerte er sich an das einundzwanzigste Kapitel des Taoteking und schrieb zwei Zeilen daraus an das Ende seiner Ermittlungsnotizen. Im Zentrum liegt die Lebenskraft, hieß es dort. Im Zentrum der Lebenskraft liegt die Wahrheit.
    Er stellte den Block aufgeklappt vor sich hin, so daß der Vers zu sehen war, und musterte ihn nachdenklich. Jeder Fall besitzt eine eigene Lebenskraft, eine eigene Essenz, ein eigenes grundlegendes Motiv, hatte er einst seinen Untergebenen eingeschärft. Finde diese Lebenskraft, und du findest die Wahrheit.
    Shan bemerkte ein leises Geräusch vor sich. »Was machen Sie da?« fragte Yeshe und schaute sich unsicher zu Sergeant Feng um. »Ich stehe hier schon seit fünf Minuten.« Er hielt einen Teller mit drei großen momo-Klößen. Das Hauptbüro hinter ihm war leer und dunkel.
    Die momos waren die erste Mahlzeit, die Shan an diesem Tag zu Gesicht bekam. Er wartete, bis Feng sich umdrehte, stopfte sich zwei davon in die Tasche und schlang den dritten hinunter. Der Kloß war köstlich und mit echtem Fleisch gefüllt. Er stammte vermutlich aus der Küche der Wachen, denn die momos der Häftlinge wurden mit grobem Getreide vollgestopft, worunter stets eine große Portion Gerstenspreu gemischt war. Während seines ersten Winters hatte man die momos mit gemahlenen Maiskolben gefüllt, wie sie sonst nur an Schweine verfüttert wurden, weil in jenem Jahr eine Dürre den Ernteertrag geschmälert hatte. Mehr als ein Dutzend Mönche waren an der Ruhr und an Unterernährung gestorben. Die Tibeter hatten einen eigenen Ausdruck für diese Art des Hungertods, der Tausende von Opfern gefordert hatte, als anfangs beinahe die gesamte geistliche Bevölkerung Tibets im Gefängnis saß. Tod durch die momo-Kugel. Nach der Dürre hatte die Tibetische Freundschaftsvereinigung, eine buddhistische Wohlfahrtsorganisation, die Erlaubnis erhalten, den Gefangenen zweimal pro Woche eine Mahlzeit zu bringen. Direktor Zhong hatte es als große Versöhnungsgeste bezeichnet und dabei überaus fröhlich getan. Shan war davon überzeugt, daß der Direktor die eigentlich für die Häftlingsverpflegung bestimmten Gelder in die eigene Tasche steckte.
    »Ich habe unser Gespräch mit Dr. Sung zusammengefaßt«, sagte Yeshe steif und schob zwei Seiten maschinengeschriebenen Text über den Tisch.
    »Mehr haben Sie nicht erledigt?«
    Yeshe zuckte die Achseln. »Man arbeitet noch immer an

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