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Der Fromme Dieb

Der Fromme Dieb

Titel: Der Fromme Dieb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellis Peters
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dachte Cadfael, als er den anderen ergeben durch die enge Tür und über die tückische Treppe folgte, daß das Mädchen ihm gehöre, weil er glaubte – nein, Gott sei seiner armen Seele gnädig, weil er irrigerweise, aber in festem Glauben weiß! – , daß er sie hierher gebracht hat. Möge Gott verhüten, daß er jemals die Wahrheit herausfindet, die Wahrheit nämlich, daß sie weit weg von hier an einem von ihr gewählten Ort ist und ihr stillschweigendes Dulden seines Stolzes auf sie nur das Mitleid eines gutherzigen Mädchens mit einem törichten Kind ist.
    Cynric, Vater Bonifaces Gemeindeküster, hatte seine kleine Wohnung über dem Portal während der Flut für die Unterbringung der Kirchenschätze zur Verfügung gestellt. Bald würde er sie wieder beziehen können. Er war ein hochgewachsener, hagerer, stiller Mann mit eingefallenen Wangen, eine für jeden normalen Sterblichen Scheu einflößende Gestalt, von allen Unschuldigen jedoch gänzlich akzeptiert, denn die Kinder der Abteivorstadt und ihre von ihnen unzertrennlichen Begleiter, die Hunde, kamen voller Vertrauen zu ihm und hockten im Sommer zufrieden mit ihm auf den Treppenstufen. Sein kleines Zimmer war jetzt fast leer und beherbergte nur noch den kostbaren Gast. Der umhüllte und verschnürte Reliquienschrein wurde ehrfurchtsvoll angehoben und mit größter Vorsicht die enge Wendeltreppe hinuntergetragen.
    Im Kirchenschiff hatte man Böcke aufgestellt, auf die man den Schrein legen wollte, um die Umhüllung, die man zu seinem Schutz angebracht hatte, leichter entfernen zu können.
    Die Stoffbahnen wurden eine nach der anderen abgenommen und zur Seite gelegt, und es schien Cadfael, der den Vorgang beobachtete, als sei die Form, die sich mit jeder abgewickelten Bahn deutlicher abzeichnete, zu starr, zu eckig, um dem zu entsprechen, was er in so liebevoller Erinnerung hatte. Die letzte Polsterung war vielleicht dermaßen fest und steif, daß die Feinheiten der Silhouette, die er so gut kannte, noch zu sehr verborgen waren. Prior Robert streckte feierlich die Hand aus, um das letzte Tuch zu ergreifen und das zu enthüllen, was darunter lag.
    Plötzlich aber stieß er einen erstickten Schrei aus, der, obwohl nicht laut, aus so erhabener Kehle kommend, von erschreckender Wirkung war. Erschrocken wich er einen unsicheren Schritt zurück, schnellte dann unverzüglich wieder vor und riß die Umhüllung vollständig beiseite, um den unerklärlichen und unerhörten Gegenstand, den sie so behutsam von seinem sicheren Verwahrungsort herabgetragen hatten, den Augen aller darzubieten. Nicht der silberbeschlagene Reliquienschrein der heiligen Winifred kam zum Vorschein, sondern ein grobgeschlagener Holzklotz, kleiner und kürzer als der Sarg, für den er hatte gelten sollen, und so leicht, daß ein Mann allein ihn zu tragen vermochte; auch kein junges Holz, sondern trockenes, gut abgelagertes.
    Alle Vorsicht und Ehrfurcht, die sie an den Tag gelegt hatten, erwies sich nun als vergeudet. Wo immer die heilige Winifred jetzt auch war, hier war sie jedenfalls nicht.
    Nach einem Augenblick fassungslosen und verwirrten Schweigens brach von allen Seiten Gemurmel und Aufruhr aus, was andere Brüder herbeieilen ließ, die sehen wollten, was die Ursache solchen Tumultes war. Prior Robert stand aufrecht und unbewegt da, hielt das Tuch mit beiden Händen umklammert und starrte sprachlos auf den abscheulichen Klotz. Es war sein kummervoller Schatten, der an seiner Statt Protest erhob.
    »Das ist alles ein schreckliches Versehen!« rief Bruder Jerome händeringend aus. »Bei dem Drunter und Drüber…
    Und es war schon finster… Jemand hat sie irrtümlicherweise anderswo untergebracht. Wir werden sie schon finden…
    Unversehrt auf einem der Speicher…«
    »Und das hier?« fragte Prior Robert, voller Verachtung auf den beleidigenden Gegenstand vor ihnen deutend. »Es wurde genauso sorgfältig umwickelt, wie wir sie umhüllt haben. Nein, das kann kein Irrtum sein! Kein unschuldiges Versehen! Das geschah mit Absicht, um uns hinters Licht zu führen. Jemand hat dies hier an ihren Platz gelegt, damit es statt ihrer gehegt und gepflegt wird. Aber wo… wo ist sie?«
    Die Unruhe lag in der Luft und wurde in Windeseile fortgetragen, die Hiobsbotschaft überall verbreitet. Mit jeder Minute kamen weitere Zeugen aus allen Richtungen herbeigeeilt, Brüder, die zum Säubern der Scheunen und Ställe ausgeschickt worden waren, neugierige Gäste, die ihre Unterkünfte verließen, zwei

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