Der Fromme Dieb
aufschlägt und die vom Schicksal bestimmte Zeile vorliest. Wir wollen die sortes Biblicae auf dem Reliquienschrein der Heiligen lesen, und ohne Zweifel wird sie ihren Richterspruch offenbaren. Warum sollen wir die Wahl, die von Rechts wegen die ihre ist, irgendeinem anderen überlassen?«
Nach einem erneuten langen Schweigen, während dessen sie alle diesen Einwand verdauten und sich mit einem so unerwarteten Vorschlag anzufreunden versuchten, sagte der Graf mit offensichtlicher Genugtuung, die in Cadfaels Ohren an Schadenfreude grenzte: »So sei es denn! Ein gerechteres Verfahren könnte es nicht geben. Vater Abt, gewährt uns zwei Tage, damit wir unsere Gedanken ordnen und unsere Ansprüche prüfen können, um nur das einzufordern, was uns gebührt. Und laßt am dritten Tag diese sortes befragen. Wir wollen unsere Bitten an die Heilige selbst richten und uns jedem von ihr gefällten Urteil beugen.«
»Du mußt mir das erklären«, sagte Hugh eine Stunde später, als er mit Cadfael in dessen Werkstatt im Kräutergarten war.
»Ich sitze nicht im Rat von Bischöfen und Erzbischöfen. Wie ist die Verfügung des Himmels in diesen sortes Biblicae, die Radulfus im Sinn hat, zu deuten? Gewiß, ich kenne den üblichen Brauch, die Zukunft zu lesen, indem man blindlings das Evangelium aufschlägt und den Finger auf eine Zeile legt, aber was hat es mit dem offiziellen Brauch bei einer Weihe eines neuen Bischofs auf sich? Schließlich ist es doch zu spät, ihn gegen einen Besseren einzutauschen, wenn das Wort auch gegen ihn spricht.«
Cadfael nahm einen siedenden Topf vom Rost über dem Kohlenbecken, stellte ihn zum Abkühlen am Boden ab und dämpfte die Glut mit ein paar Torfstücken, bevor er sich vorsichtig aufrichtete, den Rücken streckte und neben seinem Freund Platz nahm.
»Ich habe nie selbst einer solchen Weihe beigewohnt«, sagte er. »Die Bischöfe machen das unter sich aus. Ich frage mich, wie die Ergebnisse jemals durchsickern, aber sie tun es. Wenn sie nicht jemand erfindet, versteht sich. Die sind zu eindeutig, um wahr zu sein, denke ich manchmal. Aber doch, der Vorgang läuft so ab, wie Abt Radulfus es erläutert hat, und zwar sehr feierlich, wie ich gehört habe. Das Evangelium wird dem neugewählten Bischof auf die Schultern gelegt und aufs Geratewohl geöffnet, und es wird ein Finger auf die Seite gelegt…«
»Von wem?« fragte Hugh und legte damit den eigenen Finger auf den fatalen Schwachpunkt.
»Nun, das zu fragen, ist mir nie in den Sinn gekommen.
Wahrscheinlich von dem noch amtierenden Erzbischof oder Bischof. Zugegeben, er könnte Freund oder Gegner des neuen Mannes sein. Ich denke mal, daß sie ein faires Spiel spielen, aber was weiß man schon? Ob nun gut oder nicht, die gefundene Zeile ist die Prophezeiung für die Amtszeit des neuen Bischofs. Ziemlich zutreffend, manchmal. Der gute Bischof Wulstan von Worcester erhielt den Satz: ›Siehe, ein Israeliter in welchem kein Falsch ist.‹ Andere waren nicht so gut dran. Weißt du, Hugh, was die sortes für Roger von Salisbury bereithielten, der verjähren bei König Stephen in Ungnade fiel und in Schande starb? ›Bindet ihm Hände und Füße und werfet ihn in die Finsternis hinaus.‹«
»Kaum zu glauben!« sagte Hugh und hob skeptisch eine Augenbraue. »Ist nicht vielleicht irgendwer auf die Idee gekommen, ihm den Spruch nach seinem Sturz anzuhängen?
Ich frage mich, wie die himmlische Antwort für Henry von Winchester lautete, als der sein Bischofsamt erlangte. Selbst mir fallen ein paar reichlich gewagte Zeilen ein, da ich seine bestimmten Vorlieben kenne.«
»Ich glaube«, sagte Cadfael, »es war etwas aus dem Matthäus-Evangelium, was die letzten Tage betrifft, wenn falsche Propheten sich unter uns vermehren würden. Irgend etwas des Inhalts, daß, wenn jemand behaupten würde: Hier ist Christus!, man ihm nicht glauben solle. Doch mit Deutungen läßt sich leicht herumspielen.«
»Das wird auch diesmal der Pferdefuß sein«, sagte Hugh gewitzt, »es sei denn, das Evangelium spricht eindeutig und kann nicht mißverstanden werden. Was meint Ihr, warum hat der Abt diesen Vorschlag gemacht? Ohne Zweifel kann es so eingerichtet werden, daß die gewünschten Antworten herauskommen. Aber nicht, so denke ich, wenn Radulfus den Vorsitz hat. Ist er sich der himmlischen Gerechtigkeit so sicher?«
Cadfael hatte sich bereits dieselbe Frage gestellt und konnte nur den Schluß ziehen, daß der Abt tatsächlich fest darauf vertraute, daß die sortes
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