Der Fromme Dieb
züchtigen. Der eigene Abt hat diese Pflicht zu erfüllen. Mit gütiger Erlaubnis aller hier Anwesenden indes fechte ich Eure Ansicht an, Vater Abt, daß er eine Straftat begangen hat, indem er die Reliquien der heiligen Winifred fortschaffte. Ich wiederhole, es handelte sich um einen heiligen Diebstahl, den er in treuer Pflichterfüllung und in aller Ehrfurcht begangen hat.
Die Heilige selbst wies ihn dazu an. Wenn dem nicht so wäre, hätte sie niemals gestattet, daß es gelang.«
»Nur äußerst ungern kreuze ich die Klingen mit Euch«, sprach Robert Bossu mit der süßesten und ruhigsten aller Stimmen, die erhabene Schulter lässig an die Holzwand hinter sich gelehnt, »doch muß ich feststellen, daß sie es nicht hat gelingen lassen. Der Wagen, der sie fortbrachte, wurde von Wegelagerern in den Wäldern meines Besitztums überfallen und gestohlen.«
»Dieser Zwischenfall geschah durch die Schlechtigkeit böser Menschen«, entgegnete Herluin erregt und mit Augen, die Funken sprühten.
»Aber Ihr habt behauptet, daß die Macht solch einer Heiligen die Schlechtigkeit böser Menschen zunichte machen kann und wird. Wenn Winifred nicht dafür sorgte, daß die bösen Taten vereitelt wurden, dann doch wohl, weil sie ihrem Zwecke dienten. Sie ließ ihre Entführung geschehen, sie ließ den Überfall der Schurken geschehen. In meinen Wäldern beschloß sie, ihre Reise zu unterbrechen, und in meinem Haus suchte sie Zuflucht. Gemäß Eurer Argumentation muß, wenn überhaupt, doch alles nach ihrem Willen geschehen sein.«
»Darf ich Euch beide daran erinnern«, sagte der Abt behutsam, »daß die heilige Winifred – wenn sie denn die ganze Zeit dem eigenen Willen gefolgt ist und ihn uns Sterblichen kundgetan hat – auf ihren Altar in unserer Kirche zurückgekehrt ist. Das muß dann wohl Sinn und Zweck der Irrfahrt gewesen sein. Und sie ist dort, wo sie zu sein wünscht.«
Der Graf lächelte, ein äußerst charmantes und spitzfindiges Lächeln. »Nein, Vater Abt, denn dieser letzte Schritt ging anders vonstatten, als ihr ihn uns beschreibt. Sie ist hier, weil ich, der ich selbst einen Anspruch anzumelden habe, aus reiner Anständigkeit die Heilige nach Shrewsbury zurückgebracht habe, von wo sie ihre umstrittene Irrfahrt begann, um selbst wählen zu können, wo sie bleiben wollte. Zu keinem Zeitpunkt hat sie irgendeine Absicht erkennen lassen, daß ihr der Aufenthalt in meiner Kapelle mißfiel, in der ihre Ruhe respektiert wurde. Aus freien Stücken brachte ich sie hierher. Und deshalb gebe ich meinen Anspruch nicht auf. Sie kam zu mir, ich hieß sie willkommen. Und wenn sie es wünscht, nehme ich sie wieder mit nach Hause und lasse ihr einen Altar errichten, so kostbar wie der Eure.«
»Mein Lord«, ließ sich jetzt Prior Robert, verkrampft vor Widerwillen und Empörung, vernehmen, »Euer Argument steht auf schwachen Füßen. Denn warum sollen Heilige, die sich der eigenen Zwecke halber selbst böswilliger Kreaturen bedienen können, sich nicht doch eher gutwilliger Menschen bedienen?
Daß Ihr sie zurückbrachtet in ihre selbstgewählte Heimat, gibt Euch kein gewichtigeres Anrecht als uns, wenn es Euch auch zu größter Ehre gereicht. Die heilige Winifred ist mehr als sieben Jahre lang hier glücklich gewesen, und in dieses Haus ist sie zurüc kgekehrt. Sie wird es jetzt nicht mehr verlassen.«
»Aber sie hat Bruder Tutilo zu verstehen gegeben«, rief Herluin, nun seinerseits aufbrausend, »daß sie Mitleid mit dem heimgesuchten Ramsey empfindet und uns in unserem Elend zu unterstützen wünscht. Ihr könnt es nicht außer acht lassen: Sie wollte fort von hier, und sie ging fort, um uns zu Hilfe zu eilen.«
»Wir sind alle drei gleichermaßen von unserer Auslegung überzeugt«, sprach der Graf mit heiterer Unbekümmertheit.
»Wäre es deshalb nicht ratsam, die Entscheidung einer neutralen Instanz, einem Schlichter, zu überlassen und uns seinem Urteil zu beugen?«
Es folgte ein tiefes, spannungsgeladenes Schweigen.
Schließlich antwortete Radulfus mit gelassener Würde. »Wir haben bereits einen Schlichter. Wir wollen die heilige Winifred selbst ihren Willen öffentlich zum Ausdruck bringen lassen. Sie war im vorgerückten Alter eine Dame von großer Gelehrsamkeit. Sie legte ihren Nonnen die Heilige Schrift aus, sie wird sie jetzt ihren Jüngern auslegen. Bei der Weihe jedes Bischofs wird die Prognose für dessen geistliche Amtszeit erstellt, indem man das Evangelium auf seine Schultern legt und blind
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