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Der Fromme Dieb

Der Fromme Dieb

Titel: Der Fromme Dieb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellis Peters
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antwortete Cadfael.
    »In langer Gefangenschaft«, sagte sie, »wird er aufhören zu singen. Und dann wird er sterben. Und in zwei Tagen reiten wir mit dem Grafen von Leicester fort von hier. Rémy hat mir schon Anweisungen gegeben; morgen soll ich mit dem Packen der Instrumente beginnen, und Tags darauf in der Frühe brechen wir auf. Bénezet wird sich um die Pferde kümmern und Rémys Roß bewegen und sich vergewissern, daß seine Verletzung gut verheilt ist. Wir reiten fort. Und Tutilo bleibt. Wem preisgegeben?«
    »Gott«, sagte Cadfael entschieden, »und der Fürsprache der Heiligen. Eine Heilige jedenfalls wird für ihn eintreten, denn sie hat mir soeben den Keim einer Idee ins Hirn gepflanzt. So geht denn zu Bett, und verzagt nicht, denn noch ist nichts entschieden.«
    »Und was bleibt mir zu tun?« fragte sie. »Und wenn wir zehnmal beweisen, daß er nicht gemordet hat, wird man ihn dennoch nach Ramsey zurückschleppen, und dort wird man sich an ihm rächen – nicht weil er ein Dieb ist, sondern weil ihm sein Diebstahl mißglückt ist. Auf der Reise mit dem Grafen wird er zu gut bewacht sein, um an Flucht auch nur denken zu können.« Sie senkte die brennenden Augen auf Cadfaels breite braune Hand, die den Schlüssel hielt, und plötzlich lächelte sie.
    »Ich kenne den richtigen Schlüssel jetzt«, sagte sie.
    »Vielleicht wird er wieder an den falschen Nagel gehängt«, sagte Cadfael freundlich.
    »Ich würde ihn trotzdem erkennen; es sind nur zwei, die sich in Größe und Form ähneln. Doch ich kann mich genau an das Muster des Barts an dem falschen erinnern. Solch einen Fehler werde ich nicht ein zweites Mal machen.«
    Er wollte sie schon drängen, den Dingen ihren Lauf zu lassen und auf die Gerechtigkeit des Himmels zu vertrauen, als er plötzlich vor Augen hatte, wie die Kirche manchmal die Gerechtigkeit des Himmels anwendete, in gutem, aber furchtbarem Glauben – mit all der tugendhaften Engstirnigkeit und Erbarmungslosigkeit, blind gegen die unendliche Vielfalt der menschlichen Natur, ihre Schwächen und Hoffnungen und Bedürfnisse, taub gegen alle Mahnungen des Evangeliums, was die Sünder und biblischen Zöllner betrifft. Und er dachte an Singvögel im Käfig, in der Gefangenschaft zu matt, um auf den Saiten ihrer Kehlen zu spielen, ohne Lust und Mut zu singen, und er wußte, daß sie sehr wohl sterben konnten. Die eine Hälfte der Menschheit war hier in diesem schlanken dunklen Mädchen neben ihm, und diese Hälfte besaß ihr eigenes Recht, nachzudenken, sich zu entscheiden, zu handeln, nicht weniger als die männliche Hälfte. Denn letztlich waren sie gleichermaßen für den Fortbestand der Menschheit verantwortlich. Da war kein Erzbischof oder kein Abt in der Welt, der nicht eine Mutter aus Fleisch und Blut hatte und aus einer leidenschaftlichen Umarmung hervorgegangen war.
    Sie würde tun, was sie für richtig hielt, und er desgleichen. Er war nicht für die Bewachung des Schlüssels verantwortlich, sobald er ihn wieder an seinen Platz gehängt hatte.
    »Nun gut«, sagte er mit einem Seufzer. »Laßt ihn heute nacht ruhen. Laßt die Dinge laufen. Wer weiß, wieviel klarer der Himmel morgen sein wird.«
    Damit wandte er sich ab und ging zum Torhaus, um dem Pförtner den Schlüssel zurückzugeben. Hinter ihm sagte Daalny ganz sanft: »Gute Nacht!« Ihre Stimme klang ruhig, höflich und zurückhaltend, versprach nichts, verriet nichts
    – ein gleichgültiger Gruß, der aus der Finsternis kam.
    Und was hatte er, Cadfael, nach diesem letzten Besuch vorzuweisen, bei dem er den Jungen noch einmal hatte ausfragen wollen, auf eine plötzliche Erinnerung hoffend, die die Wahrheit offenbaren würde, als stieße er an einem Sommermorgen die Fensterläden auf? Nichts als eine Kleinigkeit: Tutilo hatte sein Gebetbuch verloren, irgendwo, irgendwann am Tage des Mordes. Wo sollte man es suchen bei einer halben Meile Waldweg und zwei- oder dreihundert Metern Straßen und Gassen bis zur Burg und wieder zurück, wenn es nicht sogar mehr war? Ein Gebetbuch kann kopiert werden.
    Und dennoch, wenn das alles war – warum spürte er dann, wie ihm die heilige Winifred ungeduldig in die Rippen stieß und ihm dringlich ins Ohr raunte, daß er genau wisse, wo er mit der Suche anfangen und daß er gleich am nächsten Morgen damit beginnen solle, weil es höchste Zeit sei.

12. Kapitel
    Cadfael erhob sich lang vor der Prim und blickte in eine Morgendämmerung, deren Perlgrau einen wolkenlosen Himmel und Windstille

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