Der Fuenf-Minuten-Philosoph
Seele in eine geheime Namenlosigkeit, eine wundersame Verzückung ein. Der Geist ersterbe, um in den Wundern des göttlich Höchsten vollauf lebendig zu werden.
Auch wenn diese Berichte ein intensives mystisches Erleben widerspiegeln, müssen solche Erfahrungen nicht immer so dramatisch ausfallen: Den meisten von uns sind hier nur flüchtige Einblicke vergönnt, oft ohne jede Verbindung zu einer etablierten Religion. Verwiesen wurde bereits auf den Begriff des Numinosen, dieses Empfinden für das andere, das göttlich sein kann oder nicht. So berichtet der Dichter William Wordsworth von der Erfahrung einer erspürten »Präsenz, die mich mit derWonne erhabener Gedanken verstört«. Diese Form des Pantheismus beförderte denn auch das Aufkommen dessen, was man eine Art Naturmystik nennen könnte.
Mystisches Erleben setzt keine Einsamkeit voraus: Man kann sich ihm überall stellen. So wurde der irische Schriftsteller C. S. Lewis (1898–1963) in London oben in einem Doppeldeckerbus »von Wonne überrascht«. Ob in einer großen Kultstätte oder einem Kloster, einer Höhle, an einer Waldlichtung oder inmitten des eintönigen Alltagsbetriebes, Mystik, so sagt der Holocaustüberlebende Elie Wiesel, bedeutet »den Weg zum Erlangen von Erkenntnis. Sie steht der Philosophie nahe, nur dass man in der Philosophie horizontal und in der Mystik vertikal voranschreitet«. Die Pflege solcher Erkenntnis hat etwas Erhebendes, wie es schon Albert Einstein formulierte: »Zu wissen, dass das, was wir nicht ergründen können, wirklich existiert …, dieses Wissen, dieses Spüren ist der Kern wahrer Religiosität.«
Was ist Erleuchtung?
Der Begriff »Erleuchtung« bezeichnet neben dem geistigen Erleben, dass »einem plötzlich ein Licht aufgeht«, unter dem Einfluss der fernöstlichen Tradition inzwischen auch im Westen die höchste Form spiritueller Erfahrung. Der im Englischen dafür gebrauchte Begriff enlightenment bezeichnet zugleich auch das Zeitalter der »Aufklärung« des 17. und 18. Jahrhunderts: Damals wandte man sich dem Verstand zu, um all jene Formen des Wissens zu erkunden, die zuvor ins Reich der Metaphysik und spekulativen Philosophie gehört hatten. Aber wenn einem die Verstandeskraft »die Augen öffnet«, ist man weit entfernt von einer »Erleuchtung«, wie man sie in den östlichen Religionen versteht. In der westlichen Welt ist Wahrheit – in einem religiösen Zusammenhang – traditionell eine allgemein anerkannte geoffenbarte Überlieferung. Dagegen ist sie im Osten etwas, das man persönlich anstrebt und zu dem man durch Einsicht Zugangerhält. Diese findet im Geist statt und wird durch Erfahrung bestätigt. Der 14. Dalai Lama Tendzin Gyatsho rät, dass »alles, was Erfahrung und Logik widerspricht, aufgegeben werden sollte. Die höchste Autorität muss stets beim Verstand und der kritischen Analyse des Einzelnen liegen«.
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»Andere zu erkennen, ist Weisheit; sich selbst zu erkennen, ist Erleuchtung.«
Laozi (6. Jh. v. Chr.)
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Für Hindus und Buddhisten ist Erleuchtung ein geläuterter Zustand des persönlichen Bewusstseins, in dem Begierden und Leiden überwunden werden, die sich dem Erreichen des Nirwanas in den Weg stellen. Ein solcher spiritueller Zustand ist so subtil, dass der buddhistische Zen-Meister Dogen Zenji (1200–1253) mahnte: »Denke nicht, dass du dir deiner eigenen Erleuchtung notwendigerweise bewusst sein wirst«. Nach der Lehre von der Reinkarnation, die wir als Nächstes betrachten, sind wir in einem Kreislauf aus Geburt, Tod und Wiedergeburt gefangen, den wir durchbrechen müssen, um das Nirwana zu erlangen. Und das Mittel dazu ist Erleuchtung. Sie bedeutet Befreiung vom Samsara, dem »beständigen Wandern« des Lebens, in einem alltäglichen Sinn Befreiung von Heimat, Besitz, Familie usw. So betonte der indisch-tamilische Mönch Bodhidharma (5.-6. Jh.), der erste Patriarch der Chan- und Zen-Linien: »Solange du Geburt und Tod unterworfen bist, wirst du niemals Erleuchtung erlangen«.
Der wichtigste Weg zur Erleuchtung ist Meditation, eine Praxis in vielerlei Gestalt. Sie kann individuell oder in Gruppen, in förmlichen Ritualen oder völlig frei von jedem vorgegebenen Ablauf vollzogen werden. In welcher Form der Meditierende sie auch praktiziert, er strebt einen inneren Zustand der absoluten Ruhe an, in dem der Strom der Gedanken und Vorstellungen verebbt. Auf diese Weise wird Erleuchtung durch ein richtiges Denken erreicht, das uns befähigt, Leiden und Begierden zu
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