Der fünfte Attentäter: Thriller (German Edition)
wieder gut werden würde. Auch ein Zwölfjähriger weiß, wann er belogen wird.
»Klopf, klopf. Marsh, bist du da oben?« Sein Vater war zu dem Baum hinausgefahren, als endlich alle verschwunden waren.
Marshall antwortete nicht.
»Mein Junge, ist alles okay? Du bist schon den ganzen Abend da oben«, fuhr sein Vater fort.
Immer noch keine Antwort. Und anders als in den Nächten zuvor, als Marshall darauf bestanden hatte, im Baumhaus zu schlafen, bedrängte sein Vater ihn diesmal nicht. Außerdem wusste Marshall, dass sein Dad nicht hochklettern und ihn herunterholen konnte, selbst wenn er es gewollt hätte.
Aus diesem Grund saß Marshall etwa zwanzig Minuten später auf seinem Sitzsack, als er hörte, wie jemand die Leitersprossen heraufkletterte.
»Wer auch immer es ist, ich höre dich«, warnte Marshall.
Niemand antwortete.
»Beecher, wenn du das bist, dann scher dich zum Teufel!« Aber Marshall wusste, dass Beechers Mutter ihm verboten hatte, das Baumhaus zu betreten, obwohl sie zugelassen hatte, dass Beecher an der Beerdigung teilnahm. Dasselbe galt für Paglinni und die anderen. Niemand sagte es ihm ins Gesicht, aber nachdem Marshall eine Woche allein auf seinem Sitzsack gehockt hatte, hatte er es kapiert.
»Empfängst du Besucher?«, fragte eine bekannte Stimme.
Pastor Riis spähte von der Leiter über die Bodenbretter. Sein normalerweise sorgfältig frisiertes Haar wirkte in dem dämmrigen Licht ungekämmt und zu lang.
»Gehen Sie weg«, sagte Marshall angewidert.
»Es war ein harter Tag. Ich bin gekommen, um zu sehen, wie es dir geht.«
»Sie sollten nicht hier sein.«
»Sagt wer?«
Marshall dachte darüber nach, während er auf seinem Sitzsack hin und her rutschte. Ihm fiel keine Antwort ein.
»Ich habe gehört, die Beerdigung war …« Der Pastor stöhnte, als er sich hochstemmte und in das Baumhaus kletterte. »Sehr schön.«
»Es ist niemand gekommen«, antwortete Marshall, der sich weigerte, den Kopf zu heben. »Die Kirche war praktisch leer.«
»Das habe ich auch gehört. Und es tut mir leid, dass ich nicht kommen konnte. Ich wäre wirklich gern gekommen.«
Marshall verdrehte die Augen, weigerte sich jedoch, sich umzudrehenund ihn anzusehen. Stattdessen starrte er auf den verschlissenen, schmutzigen Teppich.
»Marshall, du weißt, dass ich nicht kommen konnte, ganz gleich, wie sehr mich das geschmerzt hat. Und ich verspreche dir, es hat mich geschmerzt.« Marshall hörte, wie Riis’ Stimme bebte, und blickte endlich hoch. Nicht aus Sorge oder aus Sympathie. Marshalls Seele war versehrt, und in seinen Augen lag eine Dunkelheit, die daher stammte, dass er einen verdammt klaren Blick auf das hatte werfen müssen, was das Leben uns allen am Ende irgendwann einmal bietet. Als Pastor Riis diese Augen sah, wusste er, dass Marshall diese Dunkelheit für immer mit sich herumschleppen würde.
Der Pastor setzte sich auf einen Milchkasten. Wenn er auf der Kanzel war, hielt sich der Pastor aufrecht und wirkte lebhaft. Heute sah er zehn Jahre älter aus. Er hockte vornübergebeugt da und zog an einem Faden, der von dem Bund seines Pullovers herunterhing.
»Ich habe gehört, man hat Sie aus der Kirche geworfen«, sagte Marshall schließlich.
»Sie hatten keine andere Wahl.«
Marshall nickte, obwohl er es nicht verstand. Paglinni war nach Hause gerannt und hatte ausgeplaudert, was er gesehen hatte … Aber er hatte seinen Eltern erzählt, es wären Pastor Riis und Marshalls Mutter gewesen. Nur war der Pastor nicht einmal in der Nähe gewesen. Es war Riis’ Frau, die … Marshall schloss die Augen. »Warum haben Sie das gemacht? Wieso haben Sie ihnen nicht die Wahrheit erzählt?«
»Sie ist meine Ehefrau, Marshall.«
»Aber sie ist diejenige, die …«
»Sie ist meine Ehefrau. Wir haben diesen Bund vor Gott geschlossen, im Guten wie im Schlechten, um füreinander zu sorgen und uns zu beschützen«, fuhr er mit der Stimme fort, mit der er manchmal eine ganze Stadt zum Schweigen bringen konnte. »Nichts hätte sich geändert, wenn die Leute die Wahrheit erfahren hätten. Für keinen von uns.« Nach einer kleinen Pause fuhr er fort: »Das schließt auch deine Mutter mit ein.«
Marshall griff an die Seite des Sitzsacks und kniff in das Kunstleder,bis er eine einzelne Perle Styropor zwischen Daumen und Zeigefinger hatte.
»Ich weiß, dass du über irgendetwas nachdenkst, Marshall. Sprich es aus.«
Marshall presste die Perle noch fester zusammen.
»Du willst etwas über meine Frau
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