Der fünfte Attentäter: Thriller (German Edition)
davon übrig ist.«
»Wieso ist das überhaupt hier?« Ich kann den Blick nicht abwenden.
»Das ist unsere Arbeit«, erwiderte sie. Sie klingt fast ein wenig keck, wie sie mit ihren Fingern an dem Def-Leppard-Band entlangfährt, an dem ihr Ausweis um ihren Hals baumelt. Als sie es dreht, sehe ich, dass zwei Konzerttickets hinter dem Ausweis klemmen. Ich hüte mich, nachzufragen. »Als 1862 das Army Medical Museum gegründet wurde, bestand seine Aufgabe darin, die Wirkung des Krieges auf den menschlichen Körper zu dokumentieren. Deshalb bekam das Smithsonian sämtliche kulturellen Artefakte. Uns schickte man alle menschlichen Relikte, einschließlich der Körperteile von Abraham Lincoln.«
»Und das Hemd mit seinem Blut darauf. Und die Kugel.« Ich werdeimmer aufgeregter, während ich von Vitrine zu Vitrine eile. Unwillkürlich denke ich, dass diese Ausstellung noch wesentlich beeindruckender wäre, wenn sie mit etwas anderem anfangen würde, nämlich …
Da ist es. Der letzte Gegenstand im letzten Schaukasten. Ein kleiner, silberfarbener Metallklumpen, der einem weichen Gummiball ähnelt, aber aus Blei ist.
Die Kugel, die Abraham Lincoln getötet hat.
»Totte, das musst du dir ansehen.«
Er steht wieder an den offenen Türen der Ausstellung. »Soll ich sie schließen?«, ruft er zu uns herüber.
»Spielt keine Rolle«, winkt Dale ab. »Wir sind allein hier.« Sie folgt mir und deutet auf die Kugel.
Ich halte den Atem an, als ich die kleine Karte daneben lese. Diese handgemachte Bleikugel wurde aus einer Philadelphia-Derringer-Pistole abgefeuert und bei der Autopsie von Dr. Edward Curtis aus Lincolns Gehirn entfernt.
Dale sagt kein Wort. Dr. Curtis’ eigene Worte sind auf einer laminierten Karte unmittelbar unter der Kugel überliefert. In einem Brief, den er an seine Mutter schrieb. Er erklärt darin, wie er Lincolns Gehirn aus dem Schädel nahm, um die Kugel zu finden, und … Plötzlich fiel die Kugel aus dem Gehirn, durch meine Finger, und brach das feierliche Schweigen in dem Raum mit ihrem Geklapper, als sie in eine leere Schale fiel, die darunter stand. Da lag sie, auf dem weißen Porzellan, eine kleine, schwarze Masse, kaum größer als meine Fingerspitzen. Matt, regungslos und harmlos und doch die Ursache von solch gewaltigen Veränderungen in der Weltgeschichte, wie wir es vielleicht heute noch gar nicht ermessen können.
Ich halte immer noch den Atem an. Dale neben mir hat aufgehört, mit ihrem Band zu spielen. Selbst heute noch kann man nicht zur Gänze abschätzen, welche Veränderungen in der Geschichte John Wilkes Booth mit seiner Tat an jenem Tag ausgelöst hat. Aber ich komme nicht umhin, zu denken, dass derjenige, der diese Pastoren jetzt tötet, seine ganz eigene Vorstellung hat, falls das wirklich alles auf den derzeitigen Präsidenten abzielt.
»Erzählen Sie mir etwas über die Lincoln-Maske«, breche ich schließlich das Schweigen.
Dale deutete nach links, auf eine andere Vitrine und zieht an dem eierschalenfarbenen Kasten. Eine weitere Glasvitrine kommt zum Vorschein. Sie ist leer.
»Sie wurde vor zwei Wochen geliefert und … Peng … Weg war sie.« Dale nimmt aus einer weiteren Vitrine in der Nähe einen Aktenordner, öffnet ihn und zieht die Vergrößerung eines Farbfotos heraus, das zeigt, was sich in diesem Schaukasten befunden hat: eine Gipsmaske. Und es gibt keinen Zweifel, wen sie zeigt: die spitze Nase, die hervorstehenden Wangenknochen. Selbst in Gips erkennen wir alle Abraham Lincoln. Aber anders als die Maske aus Marshalls Wohnung hat die auf dem Foto auch Gips auf den Augen. Marshalls Maske hatte Augenlöcher, damit jemand hindurchsehen konnte. Und viel wichtiger ist, dass diese hier auf dem Foto angegilbt und alt ist. Die von Marshall war weiß.
»Kommt sie dir bekannt vor?«, erkundigt sich Totte, während ich noch einmal in Gedanken durchgehe, was Marshall mir erzählt hat. Dass er diese Maske angeblich in einer Mülltonne ein paar Blocks vom Tatort entfernt gefunden hat.
»Dale, wenn jemand diese Maske gestohlen hätte, wie schwer wäre es dann, einen weiteren Abdruck davon zu machen?« Totte weiß genau, was ich denke.
»Das trifft genau den Punkt. Seit dieses Exemplar existiert, konnten die Leute davon Büsten des Präsidenten machen. Sie haben sie sogar dafür benutzt, um die große Statue im Lincoln Memorial anzufertigen. Eigenartig ist nur, dass unser Exemplar auch nur eine Kopie des Originals ist.«
»Sie wollen also sagen, dass diese Maske nicht
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