Der fünfte Attentäter: Thriller (German Edition)
einzige Grund, warum Rupert immer darum bat, auf der Station zu arbeiten, wo die Unzurechnungsfähigen untergebracht waren. Mit dem zusätzlichen Gehalt, das er durch die Arbeit mit Nico und den anderen Geistesgestörten verdiente, konnte Rupert dafür sorgen, dass sein Neffe, der Sohn seiner Schwester, weiterhin auf die Privatschule für Taube gehen konnte. Seine Schwester, die kürzlich geschieden worden war, hätte sich diese Schule ohne Ruperts Hilfe niemals leisten können.
War es die Mühe wert?
Sein Neffe hatte gerade ein Einladungsschreiben von der Universität North Carolina bekommen, für Schach. Ein stummes Spiel.
Nicht einmal Nico konnte ihm angesichts einer solch guten Neuigkeit die Stimmung verderben.
»Fast durch?«, rief die Schwester mit den traurigen Augen aus dem Schwesternzimmer am Ende des Ganges.
Rupert hob einen Finger in die Luft und drehte den Wagen in dem kurzen, hellen neuen Flur einmal um dreihundertsechzig Grad. Rechts von ihm war sein letzter Anlaufpunkt, das Zimmer mit dem Namensschild Nico H.
Er hielt einen Moment inne und überlegte, ob er Nico den Saft streichen sollte, weil er Karina das Leben so schwergemacht hatte. Aber Rupert wusste, dass Nico es nie persönlich meinte, ganz gleich, wie nervig er auch sein mochte.
Nico war krank. Nico war verwirrt. Sicher, sie hatten ihn mittlerweile so weit gebracht, dass er nicht mehr länger mit der toten First Lady redete. Aber das bedeutete nicht, dass er geheilt war.
Und wichtiger war noch die Tatsache, dass Rupert genau wusste: Wenn er heute Abend den Saft zurückhielt, dann würde er morgen erheblich größere Probleme bekommen.
»Klopf klopf. Apfel- und Orangensaft kommen!«, verkündete Rupert, schob den Saftkarren gegen die Tür und drückte sie auf. »Wer möchte gern süßen …?«
»… dachte einfach nur, du hättest es gerne wieder zurück«, sagte Dr. Gosling, der am Kopfende des Bettes stand und Nico etwas gab.
Dr. Gosling drehte sich bei dem Geräusch der sich öffnenden Tür herum. Nico saß einfach nur da, im Bett. Er starrte bereits auf die Tür, als hätte er gewusst, dass Rupert kam.
»Es … Entschuldigen Sie«, sagte Rupert. »Ich wusste nicht, dass Sie …«
»Schon gut, kein Problem.« Dr. Gosling lächelte strahlend und zeigte seine schiefen, ultraweißen Zähne. »Habe nur kurz nach unserem Lieblingsbewohner gesehen. Ich musste mich doch davon überzeugen, dass er eine gute erste Nacht hat, habe ich recht?«
Rupert nickte und machte unwillkürlich einen Schritt zurück. Er sah in Nicos Händen, was Dr. Gosling ihm gegeben hatte. Ein in Leder gebundenes Buch. Nicos Buch.
»Er hat es im TLZ gelassen, im Badezimmer«, sagte Gosling, immer noch lächelnd. »Ich habe mir gedacht, dass er es sicher gerne wiederhätte.«
»Das ist wirklich sehr nett von Ihnen«, meinte Rupert und sah auf das Buch. Das braune Leder war dasselbe, und auch der Titel war gleich. Ein Rückblick. Aber als Rupert das Buch das letzte Mal gesehen hatte, war das Lesezeichen, das herauslugte, eine Pik Zehn gewesen. Er wusste noch, dass er unwillkürlich gedacht hatte, dass diese Pikkarten irgendwie finster wirkten. Jetzt war das Lesezeichen eine Karo Zehn.
»Haben Sie mir meinen Apfelsaft gebracht?«, wollte Nico wissen.
Rupert nickte und reichte Nico den Saft.
»Apfel ist besser als Orange«, setzte Nico hinzu. Rupert nickte weiter, und Dr. Gosling lachte.
»Wir sollten ihn jetzt wirklich schlafen lassen«, sagte Dr. Gosling, legte seine steife Hand auf den Saftwagen und winkte Rupert rückwärts zur Tür.
Rupert zog den Karren wieder in den Gang zurück, und Dr. Gosling schloss die Tür hinter ihnen. Im letzten Moment sah Rupert, wie Nico auf seinen Schoß blickte. Er wusste nicht, ob Nico auf das Buch oder den Saft starrte. Aber eins war unübersehbar: dieses düstere, unheimliche Lächeln. Nico war zweifellos glücklich über irgendetwas.
»Er macht sich gut, finden Sie nicht?«, erkundigte sich Dr. Gosling, während sie beide zum Schwesternzimmer gingen.
Auch als die Tür sich hinter den beiden Männern geschlossen hatte, hielt Nico den Kopf gesenkt und konzentrierte sich auf die Ruhe, die in sein Zimmer zurückkehrte.
»Er macht sich gut, finden Sie nicht?« , fragte Dr. Gosling draußen im Flur.
Jeder andere hätte Schwierigkeiten gehabt, das zu hören. Aber Nicos Gehör war erheblich schärfer als das eines durchschnittlichen Menschen. Er konnte hören, was andere nicht hören konnten. Und er konnte auch mehr sehen
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