Der fünfte Attentäter: Thriller (German Edition)
im Wohnzimmer spiegelt sich auf ihrer Stirn. Ihr kahler Kopf sieht so klein aus, so zerbrechlich. Und obwohl sie gerade steht und etwas gequält lächelt, sieht sie aus wie eine Patientin von einer Krebsstation. Da sie alle keine Haare haben, konzentriert man sich unwillkürlich auf ihre Augen. Und alles, was man sieht, ob man es sich nun einbildet oder nicht, ist die Verletzlichkeit und Trauer in ihrem Blick.
»Hat man dir gesagt, wie viel Zeit dir noch bleibt?«, erkundige ich mich.
Sie schüttelt den Kopf. Ich erwarte, dass ihre Stimme leise klingt, bedrückt. Tut sie aber nicht. »Keiner weiß, was es ist. Alle sagen, sie hätten so etwas noch nie gesehen. Deshalb habe ich so sehr …« Sie mahlt mit dem Kiefer und drückt mir erneut den Brief meines Vaters in die Hand. »… so sehr nach Nicos Akten gesucht. Und dabei bin ich auf diesen Brief deines Vaters gestoßen. Der …«
»Sag jetzt nicht Abschiedsbrief«, falle ich ihr ins Wort.
»Mach ich nicht.«
»Und es bedeutet auch nicht, dass er so gestorben ist.«
Sie betrachtet mich, ohne ein Wort zu sagen.
Ich überfliege erneut den Brief, der angeblich von meinem Dad stammt. In kindlicher Handschrift steht oben auf dem Papier FedEx Office und daneben eine Vorwahlnummer, die mit 734 anfängt.
»Was hast du in Michigan gemacht?«
Sie antwortet nicht.
»Clementine, du tust mir im Moment sehr leid. Nur deshalb und trotz allem, was du getan hast, überlege ich, ob ich dir zuhören soll.«
»Ich habe mich versteckt, Beecher. Ich habe die Akte durchgearbeitet, die ich aus den Archiven gestohlen habe, und habe mich versteckt. Erst in Kanada. Dann habe ich mich heimlich nach Michigan aufgemacht.«
»Das war alles?«
»Was soll deiner Meinung nach denn noch gewesen sein? Für wie schlecht hältst du mich eigentlich? Ah, richtig, das hast du mir ja schon gesagt. Du hast dieses Wort benutzt, das man für meinen Vater so gerne verwendet hat. Monster.«
Ich fühle mich mies, als sie das sagt. Und noch schlechter geht es mir, als ich sie so kahlköpfig dastehen sehe, mit ihrem Krebs. »Aber du hast Palmiotti ermordet«, sage ich.
Sie antwortet nicht, aber ich sehe dieses vertraute Funkeln in ihren Augen.
»Was? Wieso amüsiert dich das, Clementine? Du hast ihn ermordet. Du hast ihn erschossen.«
»Palmiotti ist nicht tot.«
»Ich habe es selbst gesehen! Ich war dabei, als du abgedrückt hast!«
»Und ich habe ihn vor sechs Tagen in einem Fast-Food-Restaurant in einem Target-Supermarkt in West Bloomfeld, Michigan, gesehen, als ich ihm die Akte des Präsidenten gegeben habe. Er hat sein Haar gefärbt. Und er hat eine Narbe von der Schusswunde am Hals, wo ich ihn getroffen habe. Außerdem hält er immer noch gebügelte Khakihosen für ein modisches Statement. Aber er lebt.«
Ein brennender Schmerz breitet sich in meiner Brust aus, als hätte gerade jemand einen Spaten hineingerammt und würde anfangen zu graben. Ich sehe mich um, aber die ganze Welt ist verschwommen.Ich sehe nur Palmiotti. Palmiotti, als er niedergeschossen wurde, das Blut … sein Hals … Er war … Wie kann das …?
»O nein …!«
»O doch.« Clementine lächelt immer noch.
»Das … Das ist nicht möglich.«
»Beecher, er ist der beste Freund des Präsidenten. Da ist so gut wie alles möglich. Und wenn du dich dadurch besser fühlst … Hätte Palmiotti mir nicht Nicos Akte gegeben, hätte ich niemals den Arzt aufgespürt.«
»Welchen Arzt?«
»Den Militärarzt. Sein Name stand in Nicos Navy-Akten. Dr. Yoo. Ich habe ihn in San Diego aufgespürt. Er war vor all den Jahren Nicos behandelnder Arzt. Er hat ihn beobachtet, als sie ihre Tests an ihm durchgeführt haben. Aber er hat auch … Er hat auch deinen Vater behandelt, Beecher. Er hat sie alle behandelt.«
»Nein. Niemals.« Ich will mich nicht manipulieren lassen. Mein Vater war älter. Er hat nicht … Er kann nicht mit Nico gedient haben.
»Sie waren Plankholder«, sagt Clementine. »So hat der Arzt sie genannt. Plankholder. Weißt du, was das bedeutet?«
Ich nicke und fühle mich wie betäubt, als ich auf ein paar helle Sommersprossen auf ihrem kahlen Kopf starre. Ich kenne den Ausdruck aus unseren Navy-Akten. »Das sind die ersten Mannschaftsmitglieder, die zusammen auf einem neuen Schiff dienen.«
»Richtig. Aber in der Army sind es auch die ersten Mitglieder einer Einheit. Diejenigen, die diese Einheit begründen. Eben die Plankholders.«
Ich werfe einen Blick auf den Brief meines Vaters. »Du hast also
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