Der fuenfte Berg
Haut gelöste Fleisch. Ihre Seelen wandeln bereits frei im Himmel.«
Dennoch machte er sich, hustend und halb erstickt vom Rauch, der alles einnebelte, auf den Weg zum Haus. Der Feind hatte sich zurückgezogen, doch nun machte sich Panik breit, und die Menschen liefen ziellos umher und forderten unter Tränen ihre Toten von den Göttern zurück.
Er suchte jemanden, der ihm helfen könnte. Der einzige Mann, den er erblickte, befand sich in tiefstem Schockzustand. Er war weit weg von hier.
»Ich gehe wohl besser direkt hin, ohne erst Hilfe zu holen.« Er kannte Akbar so gut wie seine Heimatstadt, und es gelang ihm, sich zu orientieren, obschon er viele Orte nicht wiedererkannte, an denen er sonst vorbeikam. Die Schreie auf der Straße machten jetzt mehr Sinn. Das Volk begann zu begreifen, daß eine Tragödie geschehen war und daß es darauf reagieren mußte.
»Hier ist ein Verletzter«, rief jemand.
»Wir brauchen mehr Wasser! Wir werden das Feuer nicht löschen können«, rief ein anderer.
»Helft mir! Mein Mann ist eingeklemmt!«
Nun stand er vor dem Haus, das ihn viele Monate zuvor wie einen Freund aufgenommen hatte. Unweit saß eine alte Frau nackt mitten auf der Straße. Elia versuchte ihr zu helfen, doch sie schob ihn weg:
»Sie stirbt!« schrie die Alte. »So tut doch etwas! Schafft die Wand weg, unter der sie liegt!«
Und sie begann hysterisch zu schreien. Elia packte sie bei den Armen und schob sie weit weg, weil sie mit ihrem Geschrei das Wimmern der Frau übertönte. Das Haus war nur noch ein Trümmerhaufen, Dach und Wände waren eingestürzt, alles eine einzige unkenntliche Masse. Er bahnte sich einen Weg durch das Geröll, das den Boden bedeckte, und gelangte an den Ort, wo einst das Zimmer der Frau gewesen war.
Nun vernahm er, durch den Lärm von der Straße hindurch, ein Wimmern. Es war ihre Stimme.
Instinktiv schüttelte er den Staub von seinen Kleidern, wie um sich schön zu machen, schweigend konzentrierte er sich. Das Feuer knisterte, die Hilferufe der Verschütteten in den benachbarten Häusern gellten an seine Ohren: Wollten sie endlich still sein, damit er die Frau und ihren Sohn finden konnte! Lange geschah nichts, dann, endlich, hörte er unter den Bohlen zu seinen Füßen ein Kratzen.
Da kniete er nieder und begann wie ein Verrückter zu graben. Dann berührte seine Hand etwas Warmes: Es war Blut.
»Stirb nicht, bitte«, sagte er.
»Laß die Trümmer auf mir liegen«, hörte er ihre Stimme sagen. »Ich möchte nicht, daß du mein Gesicht siehst. Geh und hilf meinem Sohn.«
Er grub weiter, und die Stimme sagte wieder:
»Such den Leichnam meines Sohnes. Bitte tu, um was ich dich bitte.«
Elia ließ den Kopf hängen und begann leise zu weinen.
»Ich weiß nicht, wo er verschüttet ist«, sagte er. »Bitte geh nicht. Ich möchte so gern, daß du bei mir bleibst. Du mußt mich lehren zu lieben, mein Herz ist bereit.«
»Bevor du gekommen bist, habe ich mir jahrelang den Tod gewünscht. Er wird mich erhört haben und ist nun gekommen, um mich zu holen.«
Sie seufzte. Elia biß sich auf die Lippen und sagte nichts. Jemand berührte ihn an der Schulter.
Er wandte sich erschrocken um und sah den Jungen. Er war mit Staub und Ruß bedeckt, doch er schien unverletzt.
»Wo ist meine Mutter?« fragte er.
»Hier bin ich, mein Sohn«, antwortete die Stimme unter den Trümmern. »Bist du verletzt?«
Der Junge begann zu weinen. Elia nahm ihn in die Arme.
»Du weinst, mein Sohn«, sagte die Stimme, die immer schwächer wurde. »Weine nicht. Deine Mutter hat sich schwer damit getan, zu lernen, daß das Leben einen Sinn hat. Ich hoffe, es ist mir gelungen, es dir beizubringen. Wie sieht die Stadt aus, in der du geboren wurdest?«
Elia und der Junge schwiegen fest aneinandergeklammert.
»Sie sieht gut aus«, log Elia. »Einige Krieger sind gestorben, doch die Assyrer haben sich schon zurückgezogen. Sie waren hinter dem Stadthauptmann her, um den Tod eines ihrer Generäle zu rächen.«
Wieder Schweigen. Und abermals, immer schwächer, die Stimme.
»Sag mir, daß die Stadt gerettet ist.«
Er fühlte, daß sie jeden Augenblick von ihnen gehen würde.
»Die Stadt ist unversehrt. Und deinem Sohn geht es gut.«
»Und dir?«
»Ich habe überlebt.«
Er wußte, daß er mit diesen Worten ihre Seele befreite und sie in Frieden sterben ließ.
»Bitte meinen Sohn niederzuknien«, sagte die Frau nach einer Weile. »Ich möchte, daß du mir im Namen Gottes, deines Herrn, etwas
Weitere Kostenlose Bücher