Der fünfte Mörder
gütige Grimasse und dachte ein Weilchen nach. Ãber uns in den Bäumen zankte eine Horde Spatzen.
»Ich stehe der Pfarrei jetzt seit acht Jahren vor, und anfangs habe ich ihn nicht gesehen, da bin ich mir sicher. Wenn mich nicht alles täuscht, dann ist er im Frühjahr vor drei Jahren zum ersten Mal in unserem Gotteshaus erschienen. Seither kommt er fast jeden Sonntag, den unser Herr werden lässt. Nur in den letzten drei Wochen, grad fälltâs mir auf, da hab ich den Herrn Geldorf nicht mehr gesehen.«
»Erlauben Sie mir eine Frage, auf die Sie mir vermutlich keine Antwort geben dürfen: Geht er zur Beichte?«
Während ich sprach, hatte ich mein Handy gezückt und Balkes Privatnummer aus dem Telefonbuch gesucht. Der musste jetzt eigentlich schon zu Hause sein. Als der Pfarrer zur Antwort ansetzte, hob ich die Hand, um ihn zu bremsen.
»Geldorf?«, fragte Balke ratlos. »Nein, der steht nicht auf der Liste. Das klingt ja nicht mal russisch.«
»Nein«, erwiderte Pfarrer Schwabacher, als ich mit entschuldigendem Lächeln den roten Knopf drückte, »da haben Sie recht. Diese Frage darf ich Ihnen nicht beantworten. Aber so viel kann ich Ihnen schon sagen: Der Herr Geldorf macht auf mich den Eindruck eines Menschen, dem eine schwere Schuld auf der Seele lastet. Letztes Jahr ist er einmal bei mir gewesen, an einem Abend im August. Daher kenne ich übrigens seinen Namen. Er spricht ja sonst nicht viel. Weder mit mir noch mit den anderen Gläubigen. Verstehen Sie, in einem Gotteshaus wie dem unseren, in einem Viertel wie dem unseren, da kennt man seine Schäfchen. Der Andrang ist ja heutzutage â dem Herrn seiâs geklagt â nicht mehr so stürmisch. AuÃer an Weihnachten natürlich.«
»Was wollte er bei Ihnen an dem Abend im August?«
»Die uralte Frage, die schon vor fünfzehnhundert Jahren den alten Boëthius ratlos gemacht hat: Wenn der liebe Gott in seiner Allwissenheit schon in der Stunde unserer Geburt weiÃ, was wir im Lauf unseres Lebens alles sündigen werden, wie können wir dann schuldig sein? Wie kann der Mensch an etwas schuld sein, das vorherbestimmt und damit unvermeidlich war, worauf er gar keinen Einfluss hatte?«
»Und welche Antwort haben Sie ihm gegeben?«
»Die Antwort, die unsere gute Mutter Kirche seit fünfzehnhundert Jahren gibt: Wir Menschlein sollen uns nicht anmaÃen, Gott zu verstehen. Gott ist abertausendmal gröÃer, als unser kleiner Verstand sich jemals wird ausmalen können.«
»Hat ihn das getröstet?«
»Würde Sie das denn trösten?«
»Sie können mir vermutlich nicht sagen, wo Herr Geldorf wohnt?«
»Aber doch, das kann ich. Ich habe ihn einmal aus einem Haus kommen sehen. Vor ungefähr einem Vierteljahr ist das gewesen, kurz nach Mariä Lichtmess. Ich habe ihn gegrüÃt, aber der Herr Geldorf war, wie so oft, in Gedanken.«
Pfarrer Schwabacher bestätigte auÃerdem, dass Geldorfs Gesicht inzwischen ein dichter, nicht übermäÃig gepflegter Vollbart zierte. Das Haus, das er meinte, lag am westlichen Ende der MönchhofstraÃe. Die Nummer wusste er nicht.
»Grün gestrichen ist es, linkerhand und ungefähr fünfzig Meter vor der groÃen Kreuzung. Sie können es nicht verfehlen.«
Als ich wieder in meinem Peugeot saÃ, war ich mir immer noch nicht klar darüber, was ich von dieser Geschichte halten sollte. Ein reuiger Mörder, der regelmäÃig zur Kirche ging? Andererseits: Waren nicht auch zahllose Mörder des Tausendjährigen Reichs tiefgläubige Christen gewesen?
Nur, um nichts falsch zu machen, um auch die kleinste Chance nicht ungenutzt zu lassen, suchte und fand ich Minuten später eine Parklücke vor dem grünen Haus, das der Pfarrer mir beschrieben hatte.
Ich überquerte die sonnenwarme StraÃe. Der Himmel war heute milchig blau und von zahllosen Kondensstreifen zerkritzelt. Die Luft war drückend, und ich war froh, als ich den Schatten des Hauses erreichte. Neben der Tür eine bunte Ansammlung von Fahrrädern und Betonkästen für die Mülleimer. Im Haus lebten sechs Parteien. Geldorf wohnte im obersten Stockwerk.
Ich hatte schon den Finger auf dem Klingelknopf, als ich plötzlich zögerte und die Hand wieder sinken lieÃ. Selbst wenn die Chance neunundneunzig zu eins stand, dass der Mann völlig harmlos war â es war zu riskant, hier
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