Der Fürst der Maler
rissen Abbruchtrupps breite Schneisen durch die verfallende Stadt. Wie Leichenschänder brachen die Bauarbeiter Marmorsäulen und Travertinblöcke aus den Mauern der eingestürzten Palazzi, um sie an anderer Stelle wiederzuverwenden. Der Marmor antiker Tempel und Paläste wurde zu Kalk gebrannt. In Rom ging nichts verloren, alles wurde wiederverwendet, sogar die Ruinen.
Roma Aeterna – Ewiges Rom! Miserere Domine!
Ich ritt die neue Via di Ripetta am Tiber entlang, am Mausoleum des Kaisers Augustus und am Pantheon des Agrippa vorbei, als ich auf die ersten Anzeichen von Zivilisation stieß: der Duft von Bistecca alla Fiorentina aus einer Osteria namens Paradiso und derbe toskanische Flüche aus einer Bottega gleich nebenan. Ich war im florentinischen Viertel angekommen!
Vom Blumenmarkt am Campo dei Fiori, der Hinrichtungsstätte Roms, wo es niemanden zu stören schien, dass man auf im Wind schaukelnde Gehenkte blickte, während man in der Trattoria nebenan die Suppe löffelte, wandte ich mich in Richtung Tiber. Ich überquerte den Fluss und ritt an der Engelsburg vorbei, die seit Papst Alexander VI . Festung, Schatzkammer und Geheimarchiv der Päpste war.
Entlang des Passetto, der Mauer mit dem Verbindungsgang zwischen den Palazzi Vaticani und der Engelsburg, kämpfte ich mich durch den Borgo, wo sich die deutschen und schweizerischen Pilgerherbergen drängten. Die Via Alessandrina, die Papst Alexander VI . im Heiligen Jahr 1500 erbauen ließ, führte direkt vom Tiber zum Vatikan.
Als ich endlich dem Labyrinth des Borgo entschlüpfte, stolperte ich beinahe über die zertrümmerten Marmorblöcke auf der Piazza San Pietro, die sich vor einer Bottega stapelten. Auf dem Schild las ich in großen lateinischen Lettern ›Michelangelo, Sculptor‹. Irgendjemand, aber sicher nicht der Maestro selbst, hatte frech ›et pictor Invitus‹ dahinter gepinselt: ›und Maler, aber unfreiwillig‹.
Das Holztor der Werkstatt war mit einem eisernen Vorhängeschloss gesichert. Noch etwas, das anders war als in Florenz, wo die Türen der Werkstätten für jedermann offen standen.
Die zertrümmerten Marmorblöcke vor der Bottega waren ein entsetzlicher Anblick. Hier lagen Moses und Paulus und vierzig weitere Figuren für Julius’ Grabmal – hingerichtet, bevor sie aus dem Stein befreit waren. Als Michelangelo vor fast zwei Jahren Rom in Richtung Florenz und Bologna verlassen hatte, war seine Bottega geplündert und der kostbare Marmor aus Carrara zerstört worden. Donato Bramante hatte es nicht für nötig befunden, die Blöcke zu entfernen und für den Bau der Kathedrale zu verwenden, obwohl er die Plünderung zugelassen hatte. Er wollte Michelangelo demütigen. Kein Wunder, dass Michelangelo seine Sklaven lieber in Florenz aus dem Stein befreien wollte …
Ich lenkte meinen Hengst an den Marmorblöcken vorbei über die Piazza zur größten Baustelle der Welt: San Pietro.
»Alle Wege führen nach Rom. Und in Rom scheinen alle Straßen zum Vatikan zu führen«, deklamierte ich.
Donato Bramante, der sich über den Zeichentisch gebeugt hatte, um einen Plan von San Pietro zu studieren, sah überrascht auf. »Raffaello!« Er kam um den Tisch herum und schloss mich herzlich in die Arme, wie ein Onkel seinen lang vermissten Neffen. Dann sah er mir über die Schulter. »Du bist allein? Wo sind denn deine Zauberlehrlinge, Merlin?«
»In Florenz.«
»Und wie willst du ohne sie zaubern?«
»Gian Francesco Penni und Giovanni da Udine werden in einigen Tagen nachkommen. Sie lösen die Werkstatt in San Marco auf.«
»Du ziehst also wirklich nach Rom?«, freute sich Donato.
»Wenn ich einen Auftrag bekomme …«, begann ich.
» Einen Auftrag, Raffaello? Dutzende! Du kennst das Alphabet des erfolgreichen Künstlers: Du hast Ahnung von der Malerei und der Architektur, du hast Beziehungen und die nötige Portion Chuzpe. Du wirst es schaffen! Du wirst deine Bottega wie die Engelsburg verbarrikadieren müssen, sonst werden sie dich belagern, um dir die Bilder von der Staffelei zu reißen. Rom ist … na ja, Rom ist eben Rom!«
Donato ließ alles stehen und liegen, um mir mit den Bauplänen unter dem Arm ›seine‹ Baustelle zu zeigen.
Er arbeitete gleichzeitig an zwei Kirchen: an der alten fünfschiffigen Basilika des Kaisers Konstantin, deren Ruine er Stück für Stück abreißen ließ, um die Travertinblöcke und antiken Marmorsäulen wiederzuverwenden, und an der neuen Kathedrale, die sich über die alte Kirche erhob wie Phoenix
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