Der Fürst der Maler
aus seiner Asche. Seit zwei Jahren wurde an San Pietro gebaut. Die gigantischen Fundamente, die Julius scherzhaft seine ›unterirdische Kathedrale‹ genannt hatte, waren gelegt, die kolossalen Kuppelpfeiler und die Apsiden wuchsen in den Himmel.
Bramante zeigte mir die alte byzantinische Basilika mit Giottos Fresken in der Vorhalle und den gewaltigen Bronzetoren von Antonio Filarete, dem Dombaumeister von Mailand. Donato hatte die Seitenschiffe abreißen und die marmornen Torbögen provisorisch zumauern lassen, um die baufällige Kirche zu stützen.
In der Kapelle der Petronilla, die als einzige noch stehen geblieben war, besichtigten wir Michelangelos Pietà. Die jugendliche Madonna hielt ihren toten Sohn auf den Knien, ihr wundervolles Gesicht war in stiller Trauer abgekehrt. Ganz in sich selbst versunken, schien sie wie aus Raum und Zeit entrückt. Und doch so unglaublich wirklich! Meine Hände zitterten, und ich fiel vor ihr auf die Knie und betete – andächtig und demütig. Welch wunderbares Kunstwerk Michelangelo geschaffen hatte! Die herrlichste, vollkommenste Statue, die ich je gesehen hatte.
Donato zog mich nachsichtig lächelnd weiter und ertrug geduldig mein Staunen.
Nach dem Mittagessen in einer florentinischen Trattoria im Borgo gingen wir in den vatikanischen Gärten spazieren und besichtigten Julius’ antike Skulpturensammlung im Heckenlabyrinth des Palazzo del Belvedere: den Apollon, der im Belvedere-Garten ausgegraben worden war, den Torso des athenischen Bildhauers Apollonios, die Laokoon-Gruppe, die 1506 im Domus Aurea des Kaisers Nero gefunden worden war, die Schlafende Ariadne, die Niobe, den Diskoswerfer und viele andere griechische und römische Statuen.
»Vorhin habe ich einen Boten zu Monsignor de Grassis geschickt, dem päpstlichen Zeremonienmeister. Du wirst morgen eine Audienz bei Papst Julius haben! Er wird dich in der Sixtina empfangen, gleich nach der Morgenmesse«, kündigte Donato an, als wir die Treppe zum Palazzo del Belvedere hinaufstiegen.
»So schnell?«, fragte ich verblüfft. »Ich bin noch keinen Tag in Rom und schon …«
»Julius ist ungeduldig! Er hat nach dir gefragt. Du hast ihn lange genug warten lassen«, unterbrach mich Donato. »Fast so lange wie Michelangelo …«
»Wird er mir einen Auftrag geben?«, fragte ich vorsichtig.
»Was sollte er dir wohl sonst geben? Die Hand seiner Tochter?«
Unruhig lief ich vor dem geschlossenen Portal der Kapelle auf und ab. Aus der Sixtina erklang der Gesang der Frühmesse, die mit einem Gloria in Excelsis Deo zu Ende ging.
Die Nacht hatte ich in einem Gästezimmer des Palazzo del Belvedere verbracht. Auch Donato Bramante wohnte im Vatikan, als ob er ›seine‹ Baustelle auch noch nachts bewachen müsste. Wahrscheinlich tat er das sogar! Wenn ihn Julius nicht mitten in der Nacht zu sich rief, um Planänderungen mit ihm zu besprechen.
Während der ganzen Nacht hatte ich die Rufe der Arbeiter gehört, die das Baumaterial aus den nahen Steinbrüchen abluden. Steinbrüche – so nannte Donato zynisch das Colosseum, die Caracalla-Thermen und die antiken Tempel auf den Foren, die er einreißen ließ, um Baumaterial für San Pietro zu bekommen.
Das Portal der Sixtina öffnete sich, und Monsignor Paris de Grassis trat heraus. Als er mich warten sah, lächelte er und hielt mir seinen Ring hin, damit ich ihn küsste. »Maître Raphaël! Je suis enchanté! Eure Anwesenheit in Rom wird die Laune Seiner Heiligkeit verbessern.«
»Hat er schlechte Laune?«, fragte ich vorsichtig. Ich fürchtete um den Auftrag, den Bramante mir in Aussicht gestellt hatte. Ich hatte in Urbino und Florenz alle Brücken hinter mir verbrannt und war zum ersten Mal seit Jahren wieder abhängig von den Launen eines Mäzens.
Paris de Grassis lachte amüsiert. »Seine Heiligkeit hat keine Launen, Maître! Entweder der Vulkan ist ruhig, oder er explodiert. Seit sein Neffe Francesco della Rovere sich vor wenigen Tagen selbst zum Herzog von Urbino ernannt hat, spuckt der Vulkan Feuer und Giftwolken.«
»So schlimm?«, fragte ich besorgt.
»Gestern Abend sprach Seine Heiligkeit zum ersten Mal von der Exkommunikation des Herzogs, wenn dieser sich nicht für sein Verhalten verantwortet. Stellt Euch vor, Monsieur: Der Papst verweigert seinem eigenen Neffen die Sakramente!«
»O mein Gott!«, entfuhr es mir.
»Herzog Francesco scheint in die Fußstapfen der Borgia treten zu wollen«, fuhr Paris de Grassis flüsternd fort. »Cesare Borgia hat den Ehemann
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