Der Fürst der Maler
Raffaello, du bietest mir etwas viel Besseres.« Taddeo naschte ein Stück Honigkonfekt.
»Was?«, fragte ich irritiert.
»Dich selbst. Ich kann dich betrachten. Jeden Tag. Ich sehe zu, wie du malst. Der Prozess interessiert mich, nicht das Ergebnis. Ich sehe dich an, nicht das Bild, das du malst. Du veränderst dich von Tag zu Tag. Ich will dich beobachten, wie du jeden Tag besser wirst. Besser als Masaccio, Giotto, Perugino. Besser als Leonardo, vielleicht sogar besser als Michelangelo.«
»Florenz macht es dem Besucher leicht, leichter als Urbino oder Perugia. Er braucht sich um Eindrücke nicht zu bemühen, muss die Kunst nicht suchen. Sie steht als Skulptur auf der Straße, glänzt golden von Ghibertis Bronzetüren der Taufkapelle und leuchtet in Freskofarben von den Wänden«, erklärte mir Baccio, als er mich eine Stunde später über die Piazza del Duomo führte.
Er schien sich mit meiner Anwesenheit im Palazzo abgefunden zu haben, nachdem er Taddeo in dessen Studiolo zur Entscheidungsschlacht herausgefordert und im erbitterten Wortgefecht verloren hatte.
Während wir die Via San Gallo hinuntergingen, schwiegen wir uns an. In der Via Larga warf er mir hin und wieder Worte vor die Füße, ohne eine Antwort zu erwarten. Auf der Piazza del Duomo sprach er den ersten vollständigen Satz.
»Florenz macht es dem Künstler schwer. Schwerer als irgendwo anders auf der Welt«, gestand ich. »Jede Spanne verputzter Kirchenwand ist mit Fresken von Giotto und Masaccio bemalt, jeder Hochaltar hat sein Altarbild von Fra Angelico oder Fra Bartolomeo, und die Skulpturen von Donatello und Verrocchio stehen nicht nur in den Palazzi, sondern sogar auf den Straßen und Plätzen von Florenz.«
Was sollte ich dem Ganzen noch hinzufügen?
In Perugia wurde mein Name in einem Atemzug mit dem von Pietro Perugino genannt. In Siena zogen meine Entwürfe für Pinturicchios Fresken in der Dombibliothek ganze Scharen von Künstlern an, die die Figuren kopierten. In Urbino war ich der Hofmaler des Herzogs Guido. Hier war ich einer unter vielen. Ein Name im Register der Fraternità von San Luca. Ein Maler ohne Auftrag.
Doch hier in Florenz und nirgendwo sonst lagen die Wurzeln des Verstehens. Der Kunst. Der Philosophie. Des Lebens. Nicht in Urbino. Nicht in Perugia. Nicht einmal in Venedig oder Rom. Florenz sollte der Ort meiner Studien werden, die Stadt des Maßes, die den Sinn schärft für das Maßlose und das Einzigartige.
Was wollte ich hier? Das rechte Maß des Aristoteles suchen, um meinen Stolz zu beherrschen? Erkennen, dass ich nur in Florenz dem Fluch der Mittelmäßigkeit entkommen konnte, indem ich mich am Unerreichbaren maß? Wer ist es, der dem Menschen seinen Platz zuweist? Gott? Oder der Mensch selbst?
Baccio führte mich am Dom Santa Maria del Fiore vorbei zu den Baustellen, die er als Architekt überwachte. Wir besuchten die Kirche Santo Spirito im Stadtviertel Oltr’Arno am Südufer des Arno, wo Baccio als Baumeister für die Errichtung des Campanile verantwortlich war.
Ich blieb auf der Piazza stehen, um die unvollendete Kirche zu betrachten. Anstelle einer Marmorfassade leuchteten rote Ziegel in der Morgensonne.
»Was denkst du?«, fragte Baccio.
»Sie sieht aus wie ein unverputzter … Kuhstall.«
Baccio lachte. »Filippo Brunelleschi, der größte Architekt von Florenz, wird sich in seinem Grab im Dom umdrehen! Seine Grabinschrift preist ihn als Divino Ingenio, als göttlichen Schöpfergeist. Kuhstall!«
»Ist es in Florenz nicht angebracht, aufrichtig und unverhüllt zu sagen, was man denkt?«, wollte ich wissen.
»Was hat Kunst mit Aufrichtigkeit zu tun?«, fragte Baccio scheinbar verwundert. »Sie soll gefallen. Dem, der dich bezahlt. Und allen, die mit offenem Mund davor stehen bleiben.«
»Meine Kunst soll nicht nur gefallen, Baccio. Dann stelle ich doch nur dar, was ich sehe, höre und fühle. Ich will das Unsichtbare malen. Die Seele. Das Göttliche im Menschen.«
Baccio grinste. »Komm, du Philosoph! Ich will dir etwas zeigen!« Er nahm mich bei der Hand und zog mich zum Portal der Kirche, das er mit einer großartigen Geste aufstieß. Die hölzernen Flügel knallten mit einem Donnerhall gegen die Steinwand.
Baccio schob mich in den Innenraum von Santo Spirito, einer dreischiffigen Basilika in Form eines lateinischen Kreuzes. Eine fast mathematische Harmonie schwebte wie ein Hauch von Heiligkeit im lichtdurchfluteten Raum. Jeder unserer Schritte hallte von den Wänden zurück – die
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