Der Fürst der Maler
Kirche schwang harmonisch wie eine Glocke!
Baccio zog mich bis unter die Kuppel und deutete nach oben. »Brunelleschi hat das Vierungsquadrat mit der Kuppel mit einer Seitenlänge von zweiundzwanzig Ellen als Maßeinheit für alle Teile der Basilika bestimmt. Das Mittelschiff erstreckt sich über die vierfache Länge. Die einzelnen Joche der Seitenschiffe entsprechen einem Viertel des Vierungsquadrates. Die Wände der Seitenschiffe sind exakt zweiundzwanzig Ellen hoch. Diese Basilika ist die perfekte Harmonie aus Geometrie und Mathematik!« Baccio deutete zu den Fenstern hinauf. Das Morgenlicht vergoldete die nach Weihrauch duftende Luft. »Brunelleschi hat sogar den Winkel des Lichts in seine Pläne mit einbezogen!« Baccio drehte sich zu mir um. »Raffaello, mach den Mund zu. Sonst wird dein Verstand entfliehen!«
»Das ist … unglaublich!«, flüsterte ich. »Diese Leichtigkeit … diese Harmonie … das Licht! Die Wände scheinen zu schweben! Ich habe so etwas noch nie gesehen!«
»Das ist die Idee des Renascimento! Es ist die Überwindung des dunklen Zeitalters, das uns von der Antike trennt. Es ist der Sieg der Vernunft! Der Sieg des Geistes, des Santo Spirito!«, rief Baccio begeistert, und das Echo seiner Worte hallte von den Wänden zurück.
Vom linken Seitenschiff gelangten wir in die achteckige Sakristei von Giuliano da Sangallo, einen Raum wie ein geschliffener Edelstein. »Giuliano wird heute Abend zum Disput kommen«, versprach Baccio, als er mich zurück in die Basilika zog. »Wir werden über Aristoteles sprechen, über seine Definition von Form und Inhalt. Vielleicht lästern wir aber auch über Michelangelo. Sein David wird heute aufgestellt. Der Gekreuzigte ist übrigens von ihm.« Baccio deutete lässig auf einen beinahe mannshohen Crucifixus aus geschnitztem Holz.
Verwirrt trat ich näher an die Figur heran. »Wen hat Michelangelo denn da gekreuzigt? Dionysos? Herakles? Oder Adonis? Er ist nackt! Wie ein heidnischer Gott!«
»Es ist Gottes Sohn. Michelangelo sagt: wie Gott ihn erschaffen hat.« Als Baccio sich umwandte und mein Gesicht sah, lachte er: »Sag ihm selbst, was du von seinem Gekreuzigten hältst. Vielleicht wirst du ihn heute Abend kennen lernen. Aber ich warne dich! Wenn Michelangelo etwas nicht vertragen kann, dann ist es Kritik!«
»Du bist also Maestro Raffaello …« Piero Soderini saß hinter seinem Schreibtisch, als sei er der Herzog von Florenz.
Er hatte mich empfangen, nachdem ich fast zwei Stunden warten musste. Ich hatte die Zeit genutzt und mir Leonardos Entwurfskarton der Schlacht von Anghiari im Ratssaal angesehen – und in mein Skizzenbuch kopiert.
Piero Soderini blinzelte mich kurzsichtig an, ohne das Augenglas, das zwischen einem Haufen von offiziellen Pergamenten auf dem Schreibtisch lag, in die Hand zu nehmen.
Die Regierung der Republik Florenz bestand aus der Signoria – acht Ratsherren, die den Gilden angehörten, und einem Gonfaloniere. Bis 1503 war der Gonfaloniere, der Bannerträger der Republik Florenz, jeweils nur für zwei Monate gewählt worden. Doch nach den Unruhen bei der Vertreibung der Medici und nach der Hinrichtung von Fra Savonarola und dem Scheitern seines Gottesstaates war Piero Soderini vor einem Jahr als Bannerträger auf Lebenszeit gewählt worden. Er war ein ebenso eiserner Republikaner, wie es Gaius Julius Caesar gewesen war – bevor er zum Diktator auf Lebenszeit ernannt wurde. Mit seiner ehrgeizigen Politik machte sich Soderini die halbe Stadt Florenz zum Feind.
»Ja, Euer Gnaden! Ich bin Raffaello di Giovanni Santi«, stellte ich mich vor und betrachtete an der Wand hinter ihm das Fresko von Domenico Ghirlandaio. Die blau freskierten Wände des Saals waren mit goldenen Lilien bemalt – ein wahrhaft majestätischer Raum!
»Was führt dich zu mir, Maestro?«, fragte Soderini mit einer Schattierung von Ungeduld in der Stimme.
Der Größenwahn!, dachte ich.
Baccio d’Angelo hatte mich aus meinem Traum geweckt und mir die Augen geöffnet. Ich hatte erkannt, dass ich nicht malen konnte, was ich wollte. Dass ich abhängig war vom Kunstverständnis meiner Auftraggeber. Dass meine Bilder gefallen mussten, damit ich genug verdiente, um in der reichsten Stadt der Welt nicht zu verhungern. Aber er hatte mir auch gezeigt, was einem Menschen möglich war, um das Unmögliche zu verwirklichen.
»Ich habe ein Empfehlungsschreiben der Herzogin von Urbino!« Ich trat an den Schreibtisch und reichte dem Gonfaloniere den Brief. Soderini
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