Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Fürst der Maler

Der Fürst der Maler

Titel: Der Fürst der Maler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Goldstein
Vom Netzwerk:
einzigen Handbewegung ihres Verkünders darzustellen.« Julius’ Gesicht strahlte vor Begeisterung, als er fortfuhr: »Platon und Aristoteles stehen auf der obersten Stufe der Treppe, und der Bogen, den du wie einen Heiligenschein über beide gespannt hast, verbindet diese beiden so unterschiedlichen philosophischen Lehren.« Er deutete auf eine Figur. »Ist das Sokrates?«
    »Ja, Heiliger Vater.«
    »An seinen Fingern zählt er die Artes – die sieben Künste – der Philosophie auf: Grammatik, Arithmetik, Musik, Astronomie, Geometrie, Rhetorik und Dialektik!« Julius hatte Feuer gefangen. »Und diese Künste hast du als allegorische Figuren dargestellt, die gleichzeitig Porträts sind. Leonardo da Vinci erforscht als Platon die Mysterien dieser Welt. Donato Bramante, der als Eukleides den Zirkel führt, ist die Geometrie. Neben ihm erkenne ich Zoroaster mit der Himmelskugel und Ptolemaios mit der Erdkugel.« Julius ging ein paar Schritte nach links. »Das ist …«
    »Euer Neffe Francesco della Rovere«, ergänzte ich.
    »Das meine ich nicht«, winkte er ab. Verblüfft. »Du hast ihn als Giovanni Pico della Mirandola gemalt.«
    »Ja«, trotzte ich ihm.
    Giovanni Pico della Mirandola, der Conte da Concordia, hatte seine neunhundert Thesen 1486 veröffentlicht. Er, der brillante Student der Universitäten von Bologna, Ferrara, Padua, Pavia und Paris, hatte das Wissen der Welt aus griechischen, arabischen, hebräischen Quellen zusammengetragen, um die Erkenntnisse in Rom mit Kardinälen und Humanisten zu disputieren. Sein Buch, die Conclusiones, war von der Kirche als häretisch verurteilt worden. Giovanni Pico war von Papst Innozenz VIII . exkommuniziert und verbannt worden, doch er hatte nicht aufgegeben. Er hatte es als göttliches Zeichen angesehen, dass er, der die Einheit von Naturwissenschaft, Alchemie, Philosophie, Mystizismus und Religion wiederherzustellen trachtete, gerade der Conte von Concordia war. Sein Freund Lorenzo de’ Medici hatte beim Papst interveniert, und Giovanni Pico hatte seine Freiheit wiedergewonnen. Wenige Monate später hatte der größte Gelehrte unseres Jahrhunderts vom Schicksal gedemütigt seine Apologìa verfasst …
    »Giovanni Pico wurde von Papst Innozenz VIII . als Ketzer verurteilt. Seine neunhundert Thesen sind verbrannt worden. Warum, zum Teufel, hast du ihn gemalt?«, fragte Julius nachdenklich. Er hatte mich nicht aus den Augen gelassen.
    »Heiliger Vater, Giovanni Pico hat versucht, die christliche Lehre mit den antiken Philosophien in Harmonie zu bringen.«
    »Und du glaubst, dass es ihm gelungen ist?«, fragte Julius lauernd.
    »Ja, es ist ihm gelungen«, sagte ich überzeugt.
    »Du gibst also zu, Picos Conclusiones gelesen zu haben?«
    »Ja, ich habe sie gelesen«, gestand ich trotzig.
    Julius’ Stirn legte sich in Falten, als er mich nachdenklich betrachtete. Dann wandte er sich wieder dem Entwurfskarton zu. »Wer sind die Figuren um Giovanni Pico? Sie sehen aus wie … wie …« Er stutzte. »Wer ist der Schreiber, dem der Junge die Tafel vorhält? Pythagoras? Und jener andere dort: Ist das Parmenides? Und der Alte: Ist das Demokritos?«
    »Wenn Ihr es wollt, Heiliger Vater, dann sind das Pythagoras, Parmenides und Demokritos …«
    » Wenn ich es will, Raffaello? Was willst du damit sagen?«
    »Erkennt den Unterschied zwischen Schein und Sein«, forderte ich ihn auf.
    Eine Weile verharrte er vor der Figurengruppe. »Diese Bücher … und die geschriebenen Zeilen. Das ist ein Zitat aus dem Lukas-Evangelium, das die Geburt Christi prophezeit. Das sind die vier Evangelisten, nicht wahr?«, fragte Julius aufgeregt. »Matthäus, Markus, Lukas und Johannes mit ihren Evangelienbüchern.« Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Du malst allen Ernstes Giovanni Pico mitten unter die Evangelisten?« Doch dann zögerte er, trat einen Schritt zurück, um sich das ganze Bild anzusehen.
    »Das ist unglaublich!«, rief er aus. »Du hast nicht ein Bild gemalt, sondern zwei Bilder!« Überrascht ließ er sich auf einen Stuhl vor dem Zeichentisch fallen, um den gesamten Entwurf in allen seinen Facetten zu betrachten. »Die Evangelisten links wissen von der bevorstehenden Geburt Christi. Und damit wird die Unruhe der Figurengruppe rechts verständlich. Die Astrologen haben die Zeichen gefunden, die die Geburt des Erlösers ankündigen. Aber dann … dann …«, sinnierte Julius. »Dann ist jener Philosoph dort oben neben Platon nicht Aristoteles, sondern Paulus.«
    Ich nickte.
    »Das

Weitere Kostenlose Bücher