Der Fürst der Maler
an, als hätte ich Latein mit ihm geredet.
»Du bist doch der Capo, oder nicht?«, fragte ich in einem Tonfall, der ganz meiner gereizten Laune entsprach.
»Raffaello, ich …«, begann Gianni.
»Meine Dienerin Aisha sagte, ich sollte mich an dich wenden, wenn ich in meinem Palazzo etwas suche. Nun, Capo, ich suche etwas!«
»Was ist denn heute Morgen mit dir los, Raffaello? Hast du schlecht geträumt?«, fragte Gianni leise, um mich nicht weiter zu provozieren. Seinen Blick hielt er auf die Skizzenmappe vor ihm auf dem Schreibtisch gerichtet.
»Nicht nur heute Nacht, Gianni! Mir scheint, ich habe die letzten Monate geträumt«, konterte ich. »Seit wann bist du der Capo?«
»Seit du dich um nichts mehr kümmerst! Seit du vor neun Monaten im Angesicht der Sappho zum letzten Mal den Pinsel aus der Hand gelegt hast.« Gianni versuchte ruhig zu bleiben.
Als ich nicht antwortete, schob er einen Stapel Kupferstiche über den Tisch, damit ich sie mir ansah. Ich nahm einen in die Hand. Er war sehr klar gestochen, die Darstellung war dynamisch, die Perspektive richtig.
»Sie gefallen mir«, sagte ich anerkennend. »Von wem sind sie?«
»Von Marcantonio Raimondi.«
»Ich kenne seine Signatur, Gianni. Ich meine: Wer hat die Entwürfe gemacht?«
»Du.«
»Ich?« Ich starrte auf die Kupferstiche. »Ich habe niemals einen Entwurf zu einem Kindermord von Betlehem gemacht.« Dann stockte mir der Atem, und ich sah genauer hin. Ich erkannte einige der Figuren: der Mann mit dem Schwert, die fliehende Frau … das Kind auf dem Boden … Der ermordete Junge auf dem Kupferstich hatte eine verblüffende Ähnlichkeit mit einer Skizze, die ich … die ich in Urbino gemacht hatte!
»Das ist Luca!«, rief ich aus und deutete auf das tote Kind.
»Es ist ein Kind von einer der Skizzen aus deiner Mappe, die ich Marcantonio gegeben habe, damit er …«
»Du hast ihm eine Skizze von Luca gegeben, Gianni?«, brüllte ich ihn an. »Damit Marcantonio Raimondi meinen Sohn nochmal ermordet?«
Gianni sah mich an, als wäre ich wahnsinnig geworden. Unruhig rutschte er auf seinem Stuhl hin und her. »Raffaello, bitte beruhige dich! Es tut mir Leid, wenn ich dich verletzt habe, als ich Marcantonio eine Skizze von Luca gab. Aber was glaubst du, was er seit Monaten sticht? Seine Werkstatt verkauft ›echte Raphaels ‹. Sollen die Skizzen vom Himmel fallen, wenn du keinen Stift in die Hand nimmst, um neue Bildentwürfe zu machen?«
»Du hast Skizzen aus meiner Mappe gestohlen«, beschuldigte ich ihn.
»Ich habe sie nicht gestohlen, Raffaello. Ich habe deine Skizzen aus Urbino verwendet, um die Vorlage für eine Kupferplatte zu entwerfen, die Marcantonio gestochen hat.«
»Den Mord an Luca? «, fauchte ich.
»Den Kindermord von Betlehem «, erklärte Gianni geduldig. »Für die Verwendung von Lucas Porträt bitte ich dich um Vergebung. Ich werde die Skizzen in deine Mappe zurücklegen, sobald Marcantonio sie zurückgebracht hat.«
Ich warf den Kupferstich auf seinen Schreibtisch und erhob mich.
An der Tür hielt Gianni mich auf. »Raffaello! Lass uns reden …«, flehte er mich an.
Ich drehte mich zu ihm um. »Was haben wir gerade getan, Gianni?«
»Wir haben uns angeschrien«, sagte Gianni ernst. »Bitte setz dich hin, und hör mich an!«
Ich ließ mich in den Sessel fallen und sah ihn erwartungsvoll an.
»Ich mache mir Sorgen um dich, Raffaello!«, begann Gianni. »Du bist nicht du selbst! Als ich dich in Florenz kennen gelernt habe, hast du von allem zu viel getan: zu viel gegessen, zu viel getrunken, zu viel geliebt, zu viel gearbeitet. Du und Bastiano, ihr habt während eurer Künstlertreffen in Florenz Platten voller Speisen gegessen, die wie Gemälde angerichtet waren. Wie oft habe ich euch beide betrunken nach Hause gebracht! In Venedig warst du mit Tiziano jede Nacht bei einer anderen Kurtisane. Und die Nächte hast du wie in Ekstase durchgearbeitet.
Und nun tust du nichts von alledem. Du isst nicht, trinkst nicht, hast keine einzige Geliebte, nicht einmal Aisha, die hübsche Ägypterin, die Agostino Chigi dir geschenkt hat. Du gehst nicht einmal regelmäßig ins Bordell oder zu einer schönen Kurtisane, um dich abzulenken. Stattdessen läufst du stundenlang die Via Appia Antica entlang und gräbst dich durch die antiken Ruinen, als wolltest du den Eingang zum Hades suchen.«
»Den Hades habe ich schon gefunden, Gianni.«
Was hatte Leonardo in Florenz gesagt? ›Die Kunst der Malerei unterscheidet sich nicht von der Kunst
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