Der Fürst der Maler
wie … wie meine Liebe zu Felice. Aber das Glück lässt sich erschaffen.
›Ich bin. Und ich bin glücklich. In diesem Moment‹, dachte ich. Diese Erkenntnis traf mich wie der erste Schlag des Bildhauers den Marmor. Sie warf mich fast um, aber sie befreite mich aus meinem Stein.
Immer mehr Eindrücke nahm ich in mir auf: das Zwitschern der Vögel, das Summen der Bienen, das Wispern des Windes im Gras. Ich zog meine Jacke aus und öffnete mein Hemd, um den Wind auf der Haut zu spüren. Er war kühl und erfrischend. Die Gefühle waren berauschend. Ein nie gekanntes Glücksgefühl rann durch meinen Körper, eine Wärme, die nicht von den Strahlen der Frühlingssonne stammen konnte, eine Spannung, die durch meine Muskeln fuhr. Ich dehnte mich und streckte mich, und es war lustvoll, mich zu bewegen. So war es gewesen, als ich ein Kind war, sechs Jahre alt, sieben, oder acht … Jetzt war ich siebenundzwanzig. Wohin war die Zeit entflohen? Und: Wie viel war noch übrig?
Am Ufer kniete ich nieder, um mir das Gesicht zu waschen, und starrte in die Wellen. Auf mein schwankendes Abbild. ›Das ist also Raffaello Santi‹, dachte ich bei mir. ›Das bin ich.‹ Ich setzte mich ins Gras und betrachtete mich selbst, wie es Narcissos getan hatte. Aber nicht selbstverliebt, sondern aufmerksam. Wer war dieser Mann, der mich aus dem Wasser anlächelte? Ein Mann aus Urbino, ein Florentiner, ein Römer – oder ein weit gereister Künstler, der nicht wusste, wo er eigentlich hingehörte? Ein Maler, ein Architekt, ein Genie – oder einfach nur ein Träumer mit Visionen? Ein Ideal des Ruhmes und des Erfolges – oder nur ein Mensch, der alles verloren hat, was wirklich wichtig war?
Wer also war Raffaello Santi? Oder: Was ist der Mensch? Ich hatte diese Frage in Florenz gestellt, als Leonardo den toten Körper eines Mönches aufschnitt, um ihn zu erforschen. ›Hand, Herz und Verstand‹, hatte Leonardo gesagt: Denken, Fühlen und Handeln. Wir hatten uns geirrt, damals in San Marco! Der Mensch ist die Aufgabe, innerhalb eines einzigen Lebens sich selbst zu erschaffen!
Ich erhob mich und lief weiter, immer weiter am Tiber entlang. Meile um Meile.
Der Fluss wurde breiter, flacher, langsamer. Fast schien er stillzustehen. Ich aber ging immer weiter. Ich war noch nie stehen geblieben. Der Weg hatte längst geendet, irgendwo in einem Dickicht aus Schilf war er verschwunden. Wohin? Ich hatte mir keine Gedanken gemacht, war einfach weitergelaufen, mitten durch das Schilf hindurch.
Dann hatte ich die Mündung des Tibers ins Meer erreicht. Ich stand am Strand und beobachtete, wie der Tiber aufhörte, der Tiber zu sein, und zum Meer wurde. Die Gischt des Meeres schimmerte und funkelte in der Nachmittagssonne wie eine Hand voll Diamanten. Mein Blick glitt zum fernen Horizont. Wo endete das Meer, und wo begann der Himmel?
Ich zog mein Hemd und meine Stiefel aus und watete durch die Wellen. Das Wasser war kühl und erfrischend. Ich ließ mich in die Wellen fallen und genoss die Strömung der Wogen, die mich mit sich riss. Ich tauchte ein in mein Leben und ließ mich treiben – zum ersten Mal.
In diesem Augenblick begann ich zu leben. Wirklich zu leben. Ich hörte auf, etwas zu wollen. Haben zu wollen. Sein zu wollen. Ich hörte auf zu denken. Zu begehren. Zu lieben.
Und für einen Augenblick, als mich eine Woge hochhob, dem Himmel entgegen, war es, als hörte ich auf zu existieren. Dieses unbeschreibliche Gefühl, ein Rausch, eine Ekstase, dauerte nur einen Augenblick. Dann war es vorüber. Und es ließ sich nicht wiederholen. Nicht in diesem Augenblick und in keinem der folgenden. Als ich das erkannte, watete ich zurück ans Ufer.
Ich zog mich an und kehrte nach Rom zurück.
Es war ein weiter Weg.
Als ich am nächsten Morgen allein im Salone frühstückte, setzte sich Gianni mir gegenüber an den Tisch.
»Wie lang willst du noch warten, Raffaello?«, fragte er verzweifelt. »Komm mit mir in die Stanzen! Male das Fresko des Letzten Gerichts an die vierte Wand!«
»Ich werde das Letzte Gericht nicht malen, Gianni«, erklärte ich.
»Warum nicht?«
»Ich glaube nicht an das Gericht Gottes. Also werde ich es auch nicht malen.«
»Aber …«
»Deshalb habe ich die Skizzen letzte Nacht verbrannt.«
Gianni stöhnte, als würde ich ihm Schmerzen zufügen. »Es wäre dein bestes Fresko geworden, Raffaello! Ergreifender als das Evangelium und das Credo, epischer als das Elysion. Warum hast du die Skizzen verbrannt?«
»Weil sie
Weitere Kostenlose Bücher