Der Fürst der Wölfe - Wegner, L: Fürst der Wölfe
In diesem Wagen werden wir ewig unterwegs sein. Siehst du das nicht ein?“
Vordergründig klang alles überaus logisch. Er war schneller als ein Zigeunerwagen, selbst wenn er die Tage verschlief. Er konnte die Küste binnen kürzester Zeit erreichen. „Darum geht es nicht.“
„Würdest du mich dann bitte aufklären, worum es geht?“, herrschte er sie in einem so unfassbar leisen Ton an, dass es ein scharfes Gehör brauchte, um ihn zu hören.
Sie hielt dem Flackern seines Blickes stand und krallte die Finger in sein schlaffes Jabot. „Ich sage dir, worum es geht. Die Asrai kann einen Einzelnen von uns jederzeit überwältigen. Bleiben wir hingegen zusammen, sind wir sicher. Wie, glaubst du, konnten Juvenal und ich ihr entkommen? Wir waren zu zweit, und die Chancen werden größer, je mehr wir sind. Wenn du jetzt gehst, kenne ich dich nicht mehr, Mica. Ich werde nie wieder ein Wort mit dir wechseln!“ Eine bessere Drohung kam ihr nicht in den Sinn. Umso fester umklammerte sie sein Jabot.
„Nicht nur sentimental, sondern obendrein hysterisch“, sagte er erbost. „Also gut, wenn es dir gefällt, dann vertrödeln wir unsere knapp bemessene Frist in einem klimpernden Zigeunerwagen. Mögen sie in Medmenham ohne uns zusammenkommen.“
„Wir werden die verlorene Zeit schon aufholen. Wölfe sind schnell, und ich kann mir vorstellen, dass ein Jaguar noch schneller ist“, entgegnete sie und hakte sich flugs bei ihm unter, bevor er sich anders besinnen und ihr entwischen konnte. Es war bitter genug, dass es nur wenig gab, an dem er echte Freude fand, er musste sich nicht noch obendrein in vermeidbare Gefahren stürzen.
„Du ähnelst meiner Tochter“, murrte er.
„Es ist immer gut, Gemeinsamkeiten in der Familie zu finden“, gab sie zurück und rief die drei Gänse mit einem gedämpften Zischen zu sich.
In Sachen Disziplin war Juvenal seit langen Jahren das Vorbild für alle anderen Oberhäupter der Werwolfsippen. Kein anderer hätte wohl den Schwertstreich einer Silberklinge überlebt und davon einzig eine Narbe davongetragen, die so dünn war wie ein weißer Seidenfaden. Ein Vorfall, der so weit zurücklag, dass er den ätzenden, über Wochen währenden Schmerz vergessen hatte. Es war das Fundament seiner Ruhmestaten. Mit Entsetzen und Bewunderung war es aufgenommen worden, dass er seine eigene Tochter ob ihrer Bluttaten getötet hatte. Bis heute kannte niemand die Wahrheit. Seine Gefasstheit nach dem Tod seiner Gefährtin hatte diesen unverdienten Ruhm weiter geschürt. Von allen Enden Europas waren Angehörige der Sippen damals zu dem Familiensitz in die Auvergne gekommen, um ihr Mitgefühl auszusprechen, ohne zu ahnen, wie es in ihm aussah. Hätten sie ihn nun gesehen, zusammengekauert in einem Heuhaufen, von Schüttelfrost gebeutelt, wäre ihre Bewunderung stark geschrumpft. Aber keiner von ihnen war auch jemals gezwungen, seine Markierungszeit frühzeitig abzubrechen. Geschweige denn, dass irgendein Alphawolf nachvollziehen konnte, wen er sich erwählt hatte.
Er biss die Zähne zusammen und spannte die Muskeln an, um das Zittern abzustellen. Seine Haut schien dünn wie uraltes Pergament. Durch den Stoff seiner Kleidung glaubte er, jeden Heuhalm zu spüren. Er musste an sich halten, um sich nicht blutig zu kratzen. Das Jucken seiner Haut plagte ihn stärker als die schiefen Harfenklänge des Mondlichts. In dieser Nacht war das Wüten der Bestie äußerst schwach. Selbst sie schien mitgenommen und viel zu frustriert, um ihn unter den Mond hinauszutreiben.
Berenike war zurückgekehrt, drei Gänse im Schlepptau, deren Schnattern vor Kurzem abrupt verstummt war. Vor der Scheune, wo Sancho ein Feuer entfacht hatte, diskutierte er mit Grishan über die richtige Zubereitung ihrer Mahlzeit. Ihre Stimmen verloren gegenüber dem Duft einer Nachtblume an Bedeutung. Juvenal atmete ihn nicht allein durch die Nase ein, sondern auch durch den Mund, sodass er ihn an seinem Gaumen schmeckte. Er hatte die Finger in seine Oberschenkel verkrallt, damit er der Versuchung standhalten konnte. Die Spottworte, die Mica über ihm ergossen hatte, hallten in ihm wider. Er würde Berenike nicht anrühren und den Vampir damit bestätigen. Zum Glück war es auf dem Heuboden zu dunkel, um ihr Gesicht zu sehen, sonst wäre er wohl bei aller Zurückhaltung in ein anhaltendes Winseln ausgebrochen.
„Was denkst du darüber, Juvenal?“
Mit dieser Frage erinnerte Berenike ihn an seine ausstehende Antwort. Sie wollte vermeiden, dass
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