Der Fürst der Wölfe - Wegner, L: Fürst der Wölfe
ist er nicht hübsch? Du magst doch Frühlingsfarben.“
Scheinbar wollte sie ihn versöhnen, indem sie seiner Eitelkeit schmeichelte, denn wirklich legte Mica von jeher großen Wertauf seine Garderobe. Und ja, er schätzte die hellen, munteren Farben des Frühlings und Sommers. Aber in diesem Anzug aus hellgelber Seide würde er aussehen wie eine Osterglocke. Er verkniff sich diesen Vergleich.
„Das Hemd nehme ich!“, knurrte er hervor und zog es von dem kleinen Stoffstapel.
Berenike ließ den Seidenanzug achtlos fallen, nachdem er abgelehnt worden war. Mica wusste sich von ihr beobachtet, während er den Gehrock abstreifte und kurzerhand das alte Hemd über seinen Kopf zog. Weshalb musterte sie seinen freien Oberkörper so überaus genau? Die Narbe, durch einen rostigen Nagel herbeigeführt, war verschwunden, und schließlich wusste sie aus eigener Erfahrung, dass die Körper des alten Volkes frei waren von Narben, Leberflecken oder Rötungen. Das frische Hemd war bereits aufgeknöpft. Er schlüpfte in die Ärmel und redete, um sie von ihrer Inspektion abzulenken.
„Es war ein Wagnis, am helllichten Tag in ein Haus einzudringen, um an neue Kleidung zu gelangen, Nike. Wir müssen jegliches Aufsehen vermeiden, nachdem wir bereits von Jägern entdeckt wurden. Ich nehme an, du hast sie vertrieben.“
Sie nickte. „Es ist sehr viel einfacher, am Tage ein fremdes Haus zu betreten. Einige Kilometer von hier ist eine Ortschaft, und wenn sie dort auch des Nachts alle Fenster und Türen verriegeln, stehen sie am Tage weit offen. Niemand hat … Mica“, unterbrach sie sich, trat vor ihn und legte eine Hand auf seinen Brustkorb.
Sie war kühl. Ihre Hand schob seine Finger beiseite, die die Knöpfe schlossen. Die dunkle Tönung ihrer Haut wurde durch seine marmorne Blässe stärker denn je hervorgehoben. Er sah darauf hinab. Berenike spürte die kalten Nächte mittlerweile weitaus stärker und konnte ihre Körpertemperatur nicht mehr so kontrollieren, wie es dem alten Volk gegeben war.
„Ist dir kalt?“, erkundigte er sich.
Sie ging über die Frage hinweg. „Mica, es muss sehr viele Sterbliche geben, die bei deinem Anblick große Sehnsucht empfinden, dir nah zu sein. Ja, die dich dafür sogar lieben. Aufrichtig und von Herzen.“
Was sollte das nun wieder? In Paris gab es einige ausgewählte Blutquellen, allesamt Frauen und Männer der Aristokratie, die eine eingeschworene Gemeinschaft bildeten, da sie regelmäßig sein Haus betraten und das Bett mit ihm teilten. Ob sie ihn deswegen liebten oder den Nervenkitzel weitaus mehr schätzten, blieb dahingestellt und war ihm gleichgültig. Er trat einen Schritt zurück und wich der zarten Berührung seiner Schwester aus.
„Vielleicht wirst auch du eines Tages unter ihnen jemanden finden, den du wieder lieben kannst“, murmelte sie.
Wozu? Er hatte einmal geliebt und das reichte für die Ewigkeit. Er zog den zerschlissenen Gehrock über, zupfte an den Spitzenmanschetten des Hemdes, das besser passte als das vorherige, und tätschelte Grishan den Kopf. Goldaugen blinzelten in an.
„Wir brechen auf. Spätestens morgen Nacht will ich die Küste erreichen und endlich diesen verdammten Kristall loswerden.“
„Ja, natürlich“, hauchte Berenike.
Sie schien eine andere Antwort erwartet zu haben. Vielleicht sogar eine Art Geständnis. Nur wusste Mica nicht, was er seiner Schwester eingestehen sollte. Er war der Goldene, er war der Großmeister der Vampire – und mehr musste niemand über ihn wissen.
Am Tage waren die Weiden am Beachy Head von einem saftigen Grün, und die Fladen im harten Gras kündeten von Schafherden, die sich trotz der nahen Klippen und des Windes auf dem Gelände tummelten. Bei Nacht hingegen wurde aus der grünen Aue eine silbrig im Mondlicht schimmernde Fläche. Seitdem sie ihr Lager aufgeschlagen hatten, hatten sich weder ein Schaf noch ein Schäfer gezeigt. Es war schon die zweite Nacht, die sie am Beachy Head verbrachten, und Mica hatte bisher kein Wort darüber verloren, worauf er wartete. Wäre es nach Berenike gegangen, hätte er den Kristall zugleich bei ihrer Ankunft über die Klippe ins Meer geschleudert.
Dieses lag weit unter ihnen und zog sich bis zum Horizont, sodass der Himmel aussah wie eine übergroße Käseglocke, die sich über die See wölbte. Vor wenigen Stunden erst hatte Berenike am Rand der Klippen gestanden, umbraust von Wind und dem salzigen Geruch der See. Schaumkronen tanzten auf den Wellen, und erschienen winzig
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