Der Fürst der Wölfe - Wegner, L: Fürst der Wölfe
den Niedergeschlagenen in den Sattel zu werfen und dem Pferd einen Schlag auf die Kruppe zu geben. Gemächlich trabte es davon.
„Beim nächsten Mal mache ich mit!“
„Ich hoffe sehr, dass es so bald kein nächstes Mal gibt, Grishan.“
„Zeigst du mir diesen Schlag mit der Handkante. Wumm!“
„Sicher, du wirst im Laufe der Zeit noch viele andere Schläge von mir lernen. Und Tritte. Tritte machen den größten Spaß.“
Am liebsten hätte er sofort die erste Übungsstunde in Angriff genommen. Die Kampftechnik einer Lamia unterschied sich stark von der eines Werwolfs. Knapper, effizienter und scheinbar ohne großen Kraftaufwand. Jedenfalls machte es nicht den Eindruck, als würde in ihren schlanken Armen und Händen allzu viel Kraft stecken.
„Sie werden zurückkehren“, stellte Berenike fest und ging auf die Hütte zu.
„Nach diesem Erlebnis?“
„Sie werden Verstärkung mitbringen. Schlag die Pfanne und deine Gans in ein Tuch. Wir müssen verschwinden.“
In aller Eile packte Grishan alles zusammen und löschte das Feuer. Dann folgte er Berenike in die Hütte. Sie knieten neben der Pritsche und musterte die marmornen Züge ihres Bruders. Grishan hatte ihn in seinem Schlaf schon einmal angefasst. Seine Haut war ausgekühlt, sein Körper steif wie ein Brett. Das machte ihnen das Tragen leichter. Berenike nahm seine Füße, Grishan packte ihn unter den Achseln. Im Gänsemarsch entfernten sie sich von der Köhlerhütte. Wenn der Wald von England eines bot, dann war es eine Vielzahl von unzugänglichen Verstecken, in denen sie auf die Nacht warten konnten.
Verständnislos blinzelte Mica in den Abendhimmel hinauf. Anthrazitfarbene Wolken zogen über das dunkle Blau und verwischten das volle Rund des Mondes zu einem Schemen. In einer Hütte war er eingeschlafen, und nun wurde er in einem Dornengestrüpp wach. Eine der Dornen ragte angriffslustig auf seine Nase zu. Eine dünne, spitze Provokation. Mica blieb still liegen und unterdrückte ein Seufzen. Der Übereifer seiner Dienstboten, gelegentlich auch ihre Säumigkeit, waren längst nicht so aufreibend wie die letzten Monate auf Reisen. Er sehnte sich nach seinem Hort, nach dem sauberen Duft frischer Laken, nach seinem Enkelkind und seiner Tochter und schwor sich, dass er nach seiner Rückkehr niemals wieder Paris verlassen würde.
Mit diesem Schwur rollte er sich vorsichtig auf Hände und Knie und suchte nach einem Ausweg aus dem dornigen Gestrüpp. Dort, wo sein Kopf gelegen hatte, war eine Lücke. Winzige Blätter waren in das Erdreich gedrückt. Die Spur besaß in etwa die Breite seiner Schultern. Berenike und Grishan hatten ihn in das Dickicht hineingeschoben. Wie ein Brot in einen Ofen. Da in seinem Tiefschlaf alle äußeren Eindrücke an ihm abprallten, hatte er davon nichts mitbekommen.
„Dreck!“, fluchte er leise und kroch durch die Lücke.
Sein Haar verfing sich in den Dornen. Die Spitzen gruben sich in den Samt seines Gehrocks und wollten ihn aufhalten. Ungeduldig riss er sich los. Endlich hatte er sich einen Weg ins Freie gebahnt. Durch seine hellen Haarsträhnen sah er Berenike auf sich zukommen. Auf ihrem Rücken trug sie ein Bündel aus Grishans Kleidung und einer Bratpfanne sowie vier leichte Armbrüste. Ein weiteres Bündel hielt sie in Händen. Offenbar hatte sie den Tag genutzt, um sich zu bewaffnen und neu einzukleiden. Sie trug nun eine schwarze Herrengarderobe. Neben ihr setzte Grishan die breiten Tatzen zu Boden und pirschte auf ihn zu.
„Willkommen zurück aus dem Schlaf ohne Träume“, begrüßte Berenike ihn gut gelaunt.
Mica wischte sein Haar zurück und erhob sich. „Ihr beide fügt euch zusammen, wie ein Arsch auf einen Eimer. Kaum lasse ich euch aus den Augen, treibt ihr Unsinn! Was zur Hölle habt ihr euch dabei gedacht, mich in dieses dornige Loch zu schieben?“
Er klopfte Erde und Blätter von seinen Hosenbeinen und inspizierte den Gehrock. Schlimm genug, dass die Kleidung einem anderen gehörte und nicht passgenau saß, jetzt war sie obendrein zerrissen. Die Dornen hatten lange Fäden aus dem Samt gezogen.
„Es gab Schwierigkeiten. Wir wurden von einigen Jägern entdeckt. Dich hielten sie für tot und uns für deine Mörder. Ich hielt es für klüger, die Köhlerhütte zu verlassen.“ Sie wies auf das Dornengestrüpp in seinem Rücken. „Dieses Gebüsch erwies sich als geeignet, um dich zu verbergen, falls man nach uns sucht. Als Entschädigung habe ich dir einen neuen Anzug mitgebracht. Schau her,
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