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Der Fürst der Wölfe - Wegner, L: Fürst der Wölfe

Der Fürst der Wölfe - Wegner, L: Fürst der Wölfe

Titel: Der Fürst der Wölfe - Wegner, L: Fürst der Wölfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lara Wegner
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angesichts der Höhe, aus der sie hinabblickte. Am Fuß der hohen Klippen aus Kreidefels zog sich ein schmaler Streifen aus faustgroßen Steinen entlang, rund geschliffen durch Wasser und Zeit. Selbst Mica würde unglaublich viel Schwung benötigen, um den Kristall in das tiefe Wasser zu werfen. Vielleicht zögerte er aus diesem Grund den Moment hinaus. Vielleicht fiel es ihm aber auch schwer, sich vom Spiegel der Sonne, dem Mythos ihres Volkes und der Sehnsucht nach Sonnenschein zu trennen. In der vergangenen Nacht hatte er Berenike erzählt, was ihm widerfahren war, als der Kristall in seinem Beisein aufleuchtete. Geblendet von seiner Pracht hatte ihr Bruder halluziniert. Was er vor sich gesehen hatte, blieb sein Geheimnis. Es mochte schwer wiegen, denn seit geraumer Zeit verharrte er vollkommen reglos abseits ihres kleinen Feuers, hielt den Samtbeutel mit dem Kristall in Händen und lauschte dem Meeresrauschen.
    Binnen kürzester Zeit war die Feuchtigkeit der See in ihre Kleider gedrungen. Berenike unterdrückte ein Frösteln. An der Kälte einer windigen Märznacht hatte sie sich bisher nie gestört. Vielmehr schob sie ihren Schauder auf den Nebel, der bei Einbruch des Abends an der Klippe emporwallte und Stück um kleines Stück das Weideland eroberte. Hin und wieder wurde die graue Wand von einer scharfen Böe in Fetzen gerissen. Dann erkannte sie die winzigen Lichtpunkte der Fischerboote weit draußen auf dem Meer. Zum wiederholten Mal überprüfte sie die geladenen Armbrüste. Gegen eine Asrai waren Pfeile nutzlos. Die Kreatur war unverwüstlich, aber vielleicht reichten die Schüsse aus, um sie ausreichend abzulenken und Mica einige wertvolle Sekunden zu schenken. Zudem waren einige Pfeile immer noch besser, als überhaupt keine Unterstützung leisten zu können. Was immer geschehen sollte in dieser Nacht, sobald das Warten ein Ende hatte, war Mica auf sich gestellt. Den letzten, kurzen Weg zum Klippenrand musste er allein bewältigen.
    Aufmerksam musterte sie sein verschlossenes Profil. Seine vampirischen Instinkte richteten sich auf die Deutung der geringsten Schwingungen in der Nacht, während der Wind sein Haar zauste. Goldene Locken schlugen gegen seine Wangen, umspielten seinen verhärteten Kiefer und wehten in seine Augen. Konzentration auf das Kommende verlieh dem tiefen Türkis einen überirdischen Glanz, in dem goldfarbene Funken zu schwimmen schienen. Er war ein Jäger und schien gleichzeitig ein Gejagter. Alles deutete darauf hin, dass er die Asrai erwartete. Aber konnte dieses Geschöpf die Distanz von London bis an diesen Punkt im Süden Englands wahrhaftig so schnell bewältigen, ohne sich bemerkbar zu machen? Es hatte weder geregnet noch war vor dieser Nacht Nebel aufgekommen. Jetzt ballte er sich im Übermaß vor ihren Augen zusammen. Eine scheinbar undurchlässige Front, die sich an den Klippen entlangzog.
    „Kann dieser Nebel natürlich sein?“, gab Grishan ihren Bedenken leisen Ausdruck.
    Seine geweiteten Augen und ineinander verschlungenen Finger kündeten von großer Anspannung. In den vergangenen drei Nächten hatte er wacker mitgehalten. Während der Tagstunden war er in erschöpften Schlaf gefallen, und ihr war es überlassen geblieben, die von ihm gefangenen Hasen über offenem Feuer zu rösten. Den ersten mit Haut und Haar und Gedärm und allem, was zu einem Hasen gehörte. Inständig wünschte sie, dass er bald wieder so laut herauslachen konnte und sich den Bauch hielt, wie in dem Augenblick, da sie ihm die erste von ihr zubereitete Mahlzeit präsentiert hatte. Von dieser Unbeschwertheit war er nun weit entfernt, denn dieser Moment und dieser Nebel erlaubten ihm nicht einmal ein Lächeln. Sie berührte sacht seine Schulter.
    „Überall, wo Wasser ist, steigt in den Nächten Nebel auf. Es ist ganz natürlich“, versicherte sie ihm.
    Skeptisch zog er die Brauen zusammen. Er hatte selbst am Rand der Klippe gestanden und zweifelte zu Recht daran, dass Nebel über einhundertfünfzig Meter nach oben steigen konnte. Sie zwang sich zu einem Lächeln.
    „Es wird alles gut gehen. Mica weiß, was er macht.“
    Als hätte dieser ihre Worte gehört, zuckte ein Muskel in seiner Wange. Einzig die Aufmerksamkeit einer Lamia konnte wahrnehmen, dass sich seine Augen verschmälerten. Sie folgte seiner Blickrichtung. Eine zweite graue Wand war entstanden. Vom Land her rollte sie gleich einer Woge auf die Klippen zu und verband sich in einiger Entfernung von ihrem Feuer zu einem Keil aus Grau.

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