Der Fürst der Wölfe - Wegner, L: Fürst der Wölfe
sie! Als ich sie zum ersten Mal sah, wollte sie den Werwolf noch mit ihrer Armbrust zur Strecke bringen. Dann kam Mica und sie erlag seinen Einflüsterungen und überließ dem Feind ihren Schoß. Der Werwolf hat sie als sein Eigentum markiert! Sie würde zu jeder Lüge greifen, um die beiden und sich selbst zu retten.“
Die Saat, von Branwyn gelegt, ging auf. Aus Missfallen wurde Feindseligkeit. Noch war sie gedämpft, doch die Vampire zogen bereits ihren Halbkreis enger und rückten geschlossen näher. Bisher hatten sie den Eindruck schöner, doch lethargischer Geschöpfe gemacht, doch nun flammte ein Feuer in ihnen auf und schien durch ihre Haut brechen zu wollen. Sie erstrahlten aus sich heraus. Einhalt gebietend hob Mica die Hand.
„Ich habe euch stets die Wahrheit gesagt. Unsere Feindschaft mit den Werwölfen entbehrt seit Langem jeder Grundlage. Vor wem verstecken wir uns denn? Etwa vor ihnen? Nein. Die Werwölfe wussten stets, wer und was wir sind und kennen unsere Horte. Längst hat sich ein anderer Feind eingefunden. Wir alle sind sein größter Albtraum. Es sind die Sterblichen und ihre Armeen, vor denen wir uns fürchten müssen. Denkt an die Hexengilden und was ihnen zustieß.“
„Ich will ihn sehen“, wurde Mica unterbrochen.
Die reine, glockenklare Stimme drang aus der Kapuze und lenkte die Vampire ab, obwohl sie den meisten unbekannt war. Berenike erkannte sie hingegen auf Anhieb. Hart schlug ihr Herz gegen ihre Brust. Selene. Ihre Mutter war hier! Erhaben glitt sie vorwärts und streifte die Kapuze zurück. Flammenhaar wallte über ihren Rücken, bis hinab zu ihrer Taille. Während die Vampire zurückwichen, neigten Rebecca und Cosima in einem stummen Gruß die Köpfe. Alle hielten den Atem an, und selbst Berenike fiel es schwer, Luft zu holen. Es bereitete ihr wenig Genugtuung, dass Branwyns edle Blässe einen Stich ins Grüne bekam und er wohl mit aufsteigender Übelkeit kämpfte.
Ein langer, smaragdgrüner Blick traf Berenike. Darin lag eine Liebe, die sie verloren geglaubt hatte, aber auch tiefer Kummer. Es währte nur kurz, und als Selene den verräterischen Vampir ansah, war jede Gefühlsregung erstorben. Branwyn wich zur Seite und gab ihr den Weg zu dem Sockel und der Schatulle frei.
„Ich will ihn sehen, diesen Mythos. Denn er wird uns allen die Wahrheit offenbaren“, sagte Selene und öffnete die Schatulle.
Der hölzerne Deckel fiel zurück. Da sie direkt davorstand, konnten die anderen nicht sehen, was sie sah. Selene verharrte für geraume Zeit stumm und mit gesenktem Haupt und steigerte damit die Neugier der anderen. Dann nahm sie mit einem unterdrückten Laut die Schatulle auf und drehte sich um.
„Das ist es, was Branwyn uns gebracht hat. Einen schlichten Stein, anstelle des versprochenen Segens. Wo ist denn all das Licht, auf dem der Mythos gründet?“
Jeder konnte ihn sehen, den weißen, runden Stein von der Größe einer Kinderfaust auf schwarzem Samt. Die Lippen der Lamia verzogen sich zu einem hämischen Lächeln. Berenike frohlockte. Sie hatte gewusst, dass ihre Mutter die Dinge zum Guten wenden würde. Zwischen Micas hellen Augenbrauen zeigte sich eine Steilfalte. Die Wendung schien ihn zu verärgern, vielleicht weil sie ihm zuvorgekommen war. Er hatte unendliche Qualen auf sich genommen, um seinen Widersacher zu bezwingen.
„Ich hielt den Spiegel der Sonne in meinen eigenen Händen! Mica hat ihn geraubt und verschwinden lassen!“, kreischte Branwyn unvermittelt. „Das ist ein weiterer Verrat an uns. Auch an dir, Selene! Was hast du mit dem Kristall gemacht, Mica? Was?“
„Es gab ihn nie“, erwiderte Mica knapp und griff diesmal zu einer Lüge, ohne sich dessen zu schämen.
„Er hat uns unserer Träume und Hoffnungen beraubt! Schon wieder hat er uns hintergangen, um seine eigenen Ziele durchzusetzen!“ Speichel sprühte von Branwyns Lippen. „Für diese letzte Schandtat verdient er das Erlöschen. Schon längst hätte es geschehen sollen. Er sollte gar nicht mehr unter uns sein!“
Mit einem Knall setzte Selene die Schatulle zurück auf den Sockel. „Du hast versucht, meinen Sohn auszulöschen“, zischte sie. „Ich höre es aus jedem deiner Worte, lese es aus deiner Miene und witterte es auf deiner Haut.“
Branwyn keifte weiter. „Er hat sein Dasein verwirkt! Am Wohlergehen seines Volkes liegt ihm nichts! Stattdessen überließ er seine sterbliche Tochter einem Werwolf und verschacherte seine Schwester, dein eigenes Kind, Selene, an einen
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