Der Fürst der Wölfe - Wegner, L: Fürst der Wölfe
geraten?
„Fürchtet Ihr Euch etwa vor mir, Don Juvenal?“
Bevor er etwas erwidern konnte, lehnte sie sich an ihn und drückte die Lippen auf seinen Mund. Der zarte Kuss versetzte seinen Körper in Schwingung. Es begann mit einem Schwindel in seinem Kopf, kroch über seinen Oberkörper und endete mit einem Vibrieren in seinem Unterleib. Unfassbar! Er wurde hart von einem züchtigen Kuss. Gedämpft stöhnte er auf und schob die Hände in ihren Rücken. Aus dem Fliederduft hob sich eine leichtere Note. Eine flüchtige Erinnerung an die Sommernächte Andalusiens, wenn die Dame der Nacht die Blütenkelche öffnete und mit ihrem Atem die Dunkelheit erfüllte. Süßer Nektar auf seinen Lippen. Nur für eine kurze Weile wollte er es auskosten und Vergessen darin finden. Er verstärkte den Druck seiner Lippen, wollte eintauchen in ihren Geschmack.
Silber schimmerte in seinem Augenwinkel und riss ihn aus der Versunkenheit. Seine Reaktion kam blitzartig und ohne dass er darüber nachdenken musste. Er stieß Miss Hunter hart von sich. Die Wucht seines Stoßes schleuderte sie rückwärts, doch anstatt zu Boden zu fallen, fing sie sich mit der Geschmeidigkeit einer Katze und nahm Lauerstellung ein. Ihr Mund, den er hatte erforschen wollen, öffnete sich. Zwei scharfe Spitzen zeigten sich in ihrer oberen Zahnreihe. Juvenal stierte darauf. Fänge? Das konnte doch nicht sein! Er wäre nicht mehr am Leben, wenn sie … Ein gedehntes Fauchen belehrte ihn eines Besseren.
„Du bist eine Lamia.“
Sie war es. Kein anderes Geschöpf vermochte es, Grausamkeit und Liebreiz in einem Lächeln zu vereinen. Das klebrige Fliederwässerchen hatte nicht nur seine Nase verklebt, sondern auch seine Instinkte ausgehebelt. Da er unbewaffnet war, konnte diese Begegnung tödlich enden. Er wusste von der Kraft ihrer Muskeln unter der glatten Haut. Mit einem Sprung konnte sie ihn aus dem Gleichgewicht bringen und ihre Giftfänge in seinen Hals schlagen. In ihrer rechten Hand schimmerte eine schmale, polierte Silberklinge. Wozu brauchte sie Silber? Ihr Mund hatte auf seinem gelegen. Sie hätte nur noch zubeißen müssen. Ein winziger Ritz ihrer Fänge wäre ausreichend, damit ihr Gift in seine Blutbahn gelangte. Aber er lebte noch. Weshalb hatte sie gezögert? Schwarze Mandelaugen verfolgten jeden seiner Schritte, als er vor ihr zurückwich.
Er musste die Lamia auslöschen. Die Frage war nur, wie ihm dies gelingen sollte. Langsam, als wateten sie durch Treibsand, umkreisten sie einander. Sie schien ebenso unschlüssig wie er. In einer fließenden Bewegung verlagerte sie ihr Gewicht. Ihre Blicke verhakten sich. Mit jedem verstreichenden Herzschlag rückte ihr Angriff näher. Davonlaufen kam nicht infrage, zumal es absolut sinnlos wäre. Lamia waren schneller als Werwölfe. So versuchte er sich zu wappnen, so gut er es vermochte. Hinterihr bewegten sich die Blätter eines Strauchs. Ein Schemen stob lautlos hervor und auf sie zu. Branwyn.
Juvenal warf sich zur Seite, um diesem neuen Gegner auszuweichen. Durch seinen weiten Satz abgelenkt, bemerkte die Lamia zu spät, wer in rasender Geschwindigkeit herannahte. Anstatt dass der Vampir einen Bogen um sie schlug und sich auf Juvenal stürzte, rammte er in vollem Lauf die Angehörige seines eigenen Volkes. Der Zusammenprall entriss ihr einen erstickten Schrei und hob sie von den Füßen. Ihre helle Robe wehte auf, als sie durch die Luft flog und gemeinsam mit Branwyn in einem ausladenden Busch landete. Die beiden versanken in den immergrünen Blättern. Im sorgfältig gestutzten Gras glomm der Silberdolch auf. Die Waffe war ihr aus der Hand gefallen.
Überrumpelt von dieser Wende beobachtete Juvenal das Wogen des Gebüschs. Wild schwangen die Zweige hin und her und versperrten ihm den Blick auf den stumm verlaufenden Kampf. Der Vampir musste lebensmüde sein, wenn er sich auf einen Nahkampf mit einer Lamia einließ. Sie waren Mörder und kannten keine Gnade mit ihrem eigenen Volk. Juvenals Rache würde sich ganz ohne sein Zutun erfüllen, denn er gedachte nicht, in diese tödliche Auseinandersetzung einzugreifen. Obwohl er davon ausgehen konnte, dass er das nächste Ziel der Lamia war, widerstrebte es ihm, das Weite zu suchen. Zumal dieser Kampf kein Ende nehmen wollte. Gemeinhin brauchte eine Lamia nicht so lange, um die Oberhand zu erlangen. Was, wenn er sich geirrt hatte und sie keine Lamia war? Er musste prompt an die Gefährtin seines Sohnes Cassian denken. Florine war die Tochter eines Vampirs
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