Der Fürst der Wölfe - Wegner, L: Fürst der Wölfe
Geringschätzig verzog sie den Mund angesichts der Schäbigkeit um sich herum. Der Mangel an Prunk und Sauberkeit ließ sie für einen Moment vergessen, dass sie sich in der Gewalt eines Vampirs befand. Direkt neben ihr erfasste sie eine lange, gedeckte Tafel. Zwei Leuchter standen zwischen Porzellan und Kristallgläsern. Ein schmales Bett an der Wand vervollständigte die karge Einrichtung.Sie umklammerte die Armlehnen des Stuhls und stierte auf die Halbedelsteine der Schnallen an seinen Schuhen.
Jetzt wusste sie natürlich, wen Juvenal im Ballsaal beobachtet hatte. Einen Vampir auf der Suche nach der nächsten Mahlzeit, vor dem er sie in Sicherheit bringen wollte. Allerdings nützte ihr dieses Wissen wenig. Sie saß in der Falle, und sofern kein Wunder geschah, war sie verloren. Branwyn war ihr an Kraft überlegen, das hatte der kurze Kampf gezeigt. Sie berührte behutsam ihre Nase. Die Heilung war abgeschlossen, ihre Knochen wieder dort, wo sie sein sollten. Abgesehen davon war alles schiefgegangen. Juvenal kannte die Wahrheit über sie, von großen Taten konnte sie sich verabschieden. Doch das war derzeit das geringste Problem. Wollte sie sich aus dieser Situation herauswinden, musste sie all ihre Raffinesse aufbieten. Leider zweifelte sie daran, dass sie jemals besonders raffiniert war. Sonst wäre der Abend anders verlaufen.
In großspuriger Manier durchschritt Branwyn den Speicher. Die Hände hatte er auf den Rücken gelegt. Vor der Wand wippte er auf den Zehen, drehte eine halbe Pirouette und marschierte in die andere Richtung. Nach der dritten Drehung kam er auf sie zu.
„Ich ahnte, dass mit dir etwas nicht stimmen kann. Dein Versuch, einen Werwolf mit einer Armbrust zu schießen, deine Hände …“
Sie sah auf ihre Hände. Die fingerlosen Handschuhe reichten bis zu ihren Ellbogen. Ihre Fingernägel hatte sie bis auf die Fingerkuppen gekürzt. Die langen spitzen Nägel einer Lamia wären zu auffällig gewesen. Sie strich achtlos ihr Haar zurück und fixierte Branwyn. Vor ihrem Stuhl war er stehen geblieben und strotzte vor Selbstgefälligkeit.
„Was verheimlichst du vor mir, Berenike?“
„Einem so klugen Kopf kann ich doch nichts verheimlichen.“
Seine Hände schnellten hinter seinem Rücken hervor, wollten sie packen. Blitzschnell sprang sie auf, riss einen der Leuchter an sich, schleuderte die Kerzen von den Haltedornen und richtete die Spitzen gegen ihn. Heißes Wachs war auf seine Weste getropft. In einem teuflischen Grinsen bleckte er die Fänge.
„Du warst dem Werwolf so nah. Mit einem Biss hättest du ihn töten können. Stattdessen hast du ihn geküsst.“
„Vielleicht wollte ich herausfinden, wie der Kuss eines Sterbenden schmeckt.“
„Ha!“, machte er und warf den Kopf zurück. Sein Gelächter hallte durch den Speicher.
Auf Dauer konnten die Haltedornen eines Leuchters Branwyn nicht aufhalten. Sie drohte, zu seinem Spielball zu werden. Eine reinblütige Lamia, die gezwungen war, seine Nachkommen auszutragen. Weder Selene noch Mica würden es verhindern. Eher wären sie dankbar für diese Lösung, durch die ein anderer die Verantwortung übernahm und ihnen erlaubte, die Tochter und Schwester samt ihren Schwächen zu vergessen. Angesichts dieser Zukunftsaussicht hob das Rotieren in ihrem Magen erneut an. Sie wäre die erste und einzige Lamia, die sich einem Vampir unterordnen musste. Unfrei in ihren Entscheidungen und eine Schande für alle anderen. Auf der Suche nach einem Ausweg blickte sie sich im Speicher um. Es gab keine Fenster, sondern nur die schmale Stiege, über die er sie hinaufgetragen hatte. Sobald sie darauf zurannte, gab sie ihm einen Anlass zum Angriff. Er schien auf einen Fehler zu lauern. Das Eisblau seiner Augen war starr und täuschend leblos auf sie gerichtet.
„Dein Verhalten zeigt einen erbarmungswürdigen Abstieg, Berenike. Ich habe den kleinen Dolch gesehen, den du gegen Garou richten wolltest. Lächerlich! Wozu braucht es Silber, wenn das tödlichste Gift in deinen Fängen sitzt? Seit du in London bist, gab es keine einzige tote Blutquelle.“
Dazu schwieg sie. Was sollte sie auch sagen? Sein Brustkorb berührte die Leuchterdornen, als er sich vorbeugte, um in ihr Ohr zu flüstern.
„Weißt du, was ich glaube, dunkles Täubchen? Du hast dein Gift weder gegen ihn noch mich eingesetzt, weil du … keins hast.“
Das Schmunzeln, mit dem er den Kopf zurückzog, war geradezu schelmisch. Wenn sie seine kalten Augen außer Acht ließ, besaß Branwyn
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