Der Fürst der Wölfe - Wegner, L: Fürst der Wölfe
auf und erloschen am Boden. Mit einem schmerzverzerrten Stöhnen zog sie die Beine unter sich.
Grishan half ihr auf die Füße. „Alles in Ordnung?“
„Dreifach verdammt!“, entfuhr es ihr zittrig. „In dieser Gravur steckt große Kraft. Es muss ein Zauber sein. Die Platte hält jeden fern, sei es die Asrai, Werwölfe oder das alte Volk.“
Sie humpelte auf den Sarkophag zu und glitt mit der Hand knapp über das Blumenornament hinweg. „Branwyn hat vorgesorgt. Aber wie gelangt er selbst an den Spiegel der Sonne? Wir müssen uns dieses Zeichen einprägen, Grishan. Jeden noch so kleinen Strich. Mica wird die Bedeutung kennen. Er versteht sich auf derlei Rätsel.“
Die Hände in die Hüften gestützt, gesellte sich Grishan zu ihr. Gemeinsam prägten sie sich die Gravur ein und verließen die Gruft erst, nachdem sie absolut sicher waren, dass sie jeden der feinen Silberstriche aus dem Gedächtnis nachzeichnen konnten.
„Gemeinsame Mahlzeiten haben Tradition und fördern den Zusammenhalt, Herr. Daher habe ich das beste Geschirr hervorgeholt und im Speisezimmer gedeckt. Auf dem Markt gab es frisches Wildbret.“
Ruckartig setzte sich Juvenal in den Kissen auf. „Du hast Fleisch gekauft?“
Das rundliche Gesicht von Sancho zerfiel in unendlich viele Falten. Bei aller Liebe zur Harmonie war sein Einkauf ein Wink mit dem Zaunpfahl. Gemeinhin beschafften die Wölfe sich ihr Fleisch auf der Jagd, und welche Beute in ihre Mägen wanderte, entschied der Leitwolf. Anstatt dieser Pflicht nachzukommen, hatte Juvenal die Tage auf seinem Zimmer verbracht und war in den Nächten ziellos durch die umliegenden Wälder gestreift. Sancho schürte seine Gewissensbisse, indem er weitere Versäumnisse an den Fingern abzählte.
„In diesem Hort geht es drunter und drüber, Herr. Mit einem Vampir in der Bibliothek habe ich mich arrangiert, doch alles andere ist ein Fiasko. Grishan tanzt mir auf der Nase herum. Melody rührt keinen Finger, um mir behilflich zu sein. Unddann ist da noch Mylady. Sie sagt, sie esse kein totes Tier. Sogar das Rezept für einen Kuchen habe ich ihretwegen besorgt. Wer hätte je gedacht, dass es so weit kommt und ich Kuchen backe? Aber daraus ist sowieso nichts geworden.“
Juvenal versuchte, den Redefluss einzudämmen und hob die Hand. „Sancho …“
Wie ein Fisch auf dem Trocknen schnappte sein Omega nach Luft. „Kaum hatte ich die Sahne angeschlagen und holte das Kompott, um es darunterzumischen, schnappte Grishan nach der Schüssel und rannte davon. Jetzt steht in der Küche ein Kuchenboden ohne Belag. Der Junge braucht Anleitung, Herr. Er und Melody leisten dem Vampir unziemlich oft Gesellschaft.“
Alarmiert schlug Juvenal das Laken zurück und setzte die Füße zu Boden. „Was machen sie bei Mica?“
Sancho zuckte mit den Schultern. „Grishan unterhält sich mit ihm, denn ich höre ihre Stimmen hinter der Tür. Aber was Melody angeht, bin ich unsicher. Die vergangenen Nächte verbrachte sie in der Bibliothek. Ich habe an der Tür gelauscht, ohne etwas aufschnappen zu können. Offenbar fühlt sie sich zu dem Vampir hingezogen. Ihr solltet sie umgehend in Euer Bett nehmen, damit sie weiß, wo ihr Platz ist.“
Juvenal quittierte den Vorschlag mit einem Knurren. „Melodys Platz ist nicht in meinem Bett. Wenn dir diese Maßnahme angebracht erscheint, überlasse ich dir gern den Vortritt. Meinen Segen hast du.“
„Ha!“, stieß Sancho aus und wischte durch die Luft. „Ihr kennt Catalina und ihre Eifersucht. Wegen eines appetitlichen Mädels beschwöre ich gewiss kein Unwetter auf mich herab. Außerdem bin ich ein alter Mann und muss mit meinen Kräften haushalten. Was bei Euch nicht der Fall ist. Ich glaube, Melody wäre beglückt, wenn Ihr eine Nacht mit ihr verbringt. Oder wenigstens eine Stunde.“
Solange Juvenal in London weilte, würde sein Bett kalt bleiben. Punktum. Melody und ihr Bedürfnis nach Strafe schreckte ihn ab, und eine andere Frau … Er verscheuchte jeden Gedanken an honigbraune Haut und dunkle Mandelaugen.
Sancho schnaubte. „Es kommt noch ärger, Herr. Während Ihr Euch zurückgezogen habt, wandelt Grishan auf Freiersfüßen.“
„Stattet er Mica etwa auch nächtliche Besuche ab?“
„Nein! Es ist Mylady, die ihn bezirzt hat. Was Wunder, ihr Duft zieht durch das ganze Haus. Selbst ich könnte davon kirre werden. Heute Nachmittag ging Grishan mit ihr aus dem Haus. Zu einem Spaziergang.“ Mit dem Zeigefinger zog Sancho sein unteres Augenlid herab. „Erst
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