Der Fürst der Wölfe - Wegner, L: Fürst der Wölfe
und wieder an den Straßenrand ausweichen mussten.
„Meine Heimat liegt auf der anderen Seite des großen Meeres. Meine Mutter und meine beiden Schwestern haben mir den Namen des Landes nie genannt, weil er unwichtig für uns war. Sie haben zu mir auch nie von Vampiren oder Lamia gesprochen. Vermutlich gibt es sie dort nicht, wo ich herkomme.“
„Das alte Volk ist auf jedem Kontinent zu Hause. Die Welt gehörte einst ihnen, musst du wissen.“
Erst als sie es gesagt hatte, fiel ihr auf, dass sie über die Lamia und Vampire sprach wie über ein ihr fremdes Volk, zu dem sie nicht mehr gehörte.
„Unser Zuhause war zwei Tagesreisen von der Küste entfernt. Eigentlich hatten wir zwei. Eine Hütte, die wir sehr selten benutzten, und eine Höhle direkt dahinter. Obwohl es keine Nachbarn gab, war meine Mutter sehr vorsichtig. Es ist ein weites Land, aus dem ich komme. Aber erst hier habe ich einen Vater gefunden.“
Er schien sich nach dieser Weite zu sehnen, so wie er sich wohl einst nach einem Vater gesehnt hatte.
„Was ist geschehen?“, fragte sie nach einer Weile, in der sie stumm nebeneinander herliefen.
„Manchmal besuchten wir die Stadt an der Küste. Meine Mutter kaufte dort Stoffe und Töpfe und so fort. Wir gaben vor, zu leben wie die Menschenkinder, obwohl wir selten auf sie trafen. Jedenfalls beging ich einen Fehler. Das war früher häufig der Fall.“
„Du warst ungehorsam“, folgerte sie.
Nach kurzem Zögern nickte er. „Es war mir verboten, an den Hafen zu gehen, aber ich wollte die Schiffe sehen. Sie waren groß. Größer als manches Haus. Die Masten reichten bis in die Wolken.“ Ein wenig verlegen spähte er unter seinem Dreispitz zu ihr. „Überall wurden Waren ein- oder ausgeladen und ich … Ich hatte noch nie gesehen, wie es im Bauch eines Schiffes aussieht.“
Er sah hastig beiseite und schien es darauf belassen zu wollen. Ohnehin ahnte Berenike das Ende seiner Geschichte. Grishan war damals eher ein Junge denn ein Mann gewesen. Neugierde hatte ihn auf ein Schiff gelockt und seiner Familie entrissen. Sanft berührte sie seinen Unterarm.
„Das tut mir leid, Grishan.“
„Meine Dummheit verdient kein Mitleid“, sagte er schroff. „Sie schlossen die Luken, bevor ich überhaupt wusste, was geschah. Es war dunkel im Bauch des Schiffes und ich war gefangen. Es schaukelte und schaukelte immer stärker, und die Wellen schlugen so hart gegen das Schiff, dass ich fürchtete, es würde zerschellen. Dann kam jemand. Sobald ich die Schritte hörte, verwandelte ich mich. Ich hatte Angst. Zwar versteckte ich mich zwischen zwei Fässern, aber ich war so erschrocken, dass ich nach meiner Mutter rief und mich verriet. Der Seemann fand mich, packte mich im Nacken und steckte mich in eine Kiste. Und dort blieb ich und wurde mit Fischen gefüttert. Sie wollten mich verkaufen.“
Berenike schnappte nach Luft. „Du warst während der ganzen Überfahrt eine Raubkatze?“
„Was sollte ich sonst machen? Einmal packten sie einen, brüllten herum und banden ihn an ein Seil. Daran zogen sie ihnunter dem Schiff hindurch. Er hat es nicht überlebt. Sie hatten auch eine Bullenpeitsche. Jeden Tag knallte sie auf einen anderen Rücken. Diese Menschenkinder waren grausam. Hier sind wir“, unterbrach er seinen Bericht.
Er kam aus einem fernen Land, dessen Name ihm unbekannt war, und hatte Furchtbares durchstehen müssen. Der Gedanke, dass der Miezekater in eine Kiste gestopft und über lange Wochen gefangen gehalten worden war, brachte Berenike über die Maßen gegen die ihr fremden Seeleute auf. Grishan legte die Hand auf ein rostiges Eisentor und kehrte ihr den Rücken zu. Als sie sanft seine Schulter streichelte, versteifte er sich. Nach Trost verlangte es ihn ebenso wenig wie nach Mitgefühl. Sie drang nicht weiter in ihn.
Das Tor quietschte verräterisch in den Angeln. Sie gingen hindurch und befanden sich nach wenigen Schritten in einem Garten, der vom Rest der Welt vergessen schien. Gräser überwucherten die Auffahrt zum Haus. Efeu rankte sich um die Bäume und bildete einen dichten Teppich am Boden. Auf einigen Steinfiguren wuchs Moos. Selbst die Vögel schienen diesen verwunschenen Ort zu meiden. Einzig das Rascheln der Baumkronen war in der kühlen Brise zu hören. Seit Jahren waren die Zierhecken wild gewachsen, und ihre Zweige versperrten die Sicht auf das Haus. Im Schutz einer Buchsbaumhecke blieben sie stehen und bogen die Äste auseinander. Das Haus hatte einmal gebrannt. Ruß hatte die
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