Der Fürst des Nebels
Schultern, als wollte sie den Vorfall herunterspielen. Doch ihre Stimme klang zittrig und verriet ihre Besorgnis. »Meinst du, daß das etwas zu bedeuten hat?«
»Nein«, log Max, »wahrscheinlich nicht.« »Ich glaube auch nicht«, bekräftigte Alicia. »Das mit morgen früh gilt noch? Das Tauchengehen?«
»Klar. Soll ich dich wecken?«
Alicia lächelte ihren jüngeren Bruder an. Es war das erste Mal seit Monaten, vielleicht seit Jahren, daß Max sie so lächeln sah.
»Ich werde wach sein«, erwiderte Alicia, während sie sich auf den Weg zu ihrem Zimmer machte.
»Gute Nacht.«
»Gute Nacht«, erwiderte Max.
Max wartete, bis Alicias Zimmertür sich schloß, dann setzte er sich in den Wohnzimmersessel neben den Projektor. Von dort aus konnte er seine Eltern mit gedämpften Stimmen in ihrem Zimmer reden hören. Der Rest des Hauses versank in nächtlichem Schweigen, das kaum gestört wurde durch das Geräusch des Meeres, das auf den Strand schlug.
Plötzlich spürte Max, daß jemand ihn vom Fuß der Treppe aus ansah. Die fahlgelben und glänzenden Augen von Irinas Katze beobachteten ihn starr. Max erwiderte den Blick der Katze.
»Hau ab«, befahl er ihr.
Die Katze hielt seinem Blick einige Sekunden lang stand, dann verschwand sie in der Dunkelheit.
Max richtete sich auf und begann, den Projektor und den Film zusammenzuräumen. Er dachte daran, die Ausrüstung wieder in den Schuppen zu bringen, aber der Gedanke, mitten in der Nacht nach draußen zu gehen, schien ihm wenig verlockend. So löschte er die Lichter des Hauses und ging in sein Zimmer hinauf. Durch das Fenster spähte er in Richtung des Skulpturengartens, der nicht zu erkennen war in der schwarzen Nacht. Er legte sich ins Bett und schaltete die Lampe auf dem Nachttisch aus.
Max war selbst verwundert über das letzte Bild, das in dieser Nacht durch seinen Kopf ging, bevor er in den Schlaf sank. Nicht der unheimliche Filmspaziergang durch den Skulpturengarten stand ihm vor Augen, sondern das unerwartete Lächeln seiner Schwester Alicia vor wenigen Minuten im Wohnzimmer. Es war ein scheinbar belangloser Gesichtsausdruck gewesen, aber Max ahnte, daß sich aus einem Grund, den er nicht verstand, eine Tür zwischen ihnen geöffnet hatte. Von dieser Nacht an würde er seine Schwester nie mehr als eine Unbekannte betrachten.
Kapitel 6
K urz nach Tagesanbruch öffnete Alicia die Augen und bemerkte, daß hinter der Scheibe ihres Fensters zwei unergründliche gelbe Augen sie anstarrten. Sie richtete sich jäh auf, und Irinas Katze zog sich ohne Eile vom Fensterbrett zurück. Alicia haßte dieses Tier, sein hochmütiges Verhalten und diesen durchdringenden Geruch, der von ihm ausging und der seine Anwesenheit verriet, noch bevor es ein Zimmer betrat. Es war nicht das erste Mal, daß es Alicia mit seinem verstohlenen, eindringlichen Blick überrascht hatte. Seit Irina es durchgesetzt hatte, daß sie das widerliche Katzentier in das Haus am Strand mitnehmen durfte, hatte Alicia oft beobachtet, wie das Tier minutenlang unbeweglich und wachsam auf einer Türschwelle oder im Schatten verborgen lag und die Bewegungen irgendeines Familienmitgliedes ausspionierte. Insgeheim hoffte Alicia, daß ein streunender Hund dem Tier bei einem seiner nächtlichen Beutezüge einmal den Garaus machen würde.
Draußen verlor der Himmel gerade die purpurrote Färbung, die die Morgendämmerung für gewöhnlich begleitete, und die ersten Strahlen der heißen Sonne traten über dem Wald jenseits des Skulpturengartens hervor. Noch fehlten mindestens zwei Stunden, bis Max' Freund vorbeikommen würde, um sie abzuholen. Alicia kuschelte sich wieder in ihre Bettdecke und schloß die Augen, obwohl sie wußte, daß sie nicht mehr einschlafen würde. Sie lauschte auf das entfernte Geräusch der Wellen, die auf den Strand schlugen.
Einige Zeit später klopfte Max leise an ihre Tür. Alicia ging auf den Zehenspitzen die Treppen hinunter. Max und sein Freund warteten draußen. Bevor sie hinausging, blieb sie eine Sekunde lang im Hausflur stehen und konnte die Stimmen der beiden Jungen hören. Sie holte tief Luft und öffnete die Tür.
Max, der am Geländer des Treppenaufgangs lehnte, drehte sich um und lachte. Neben ihm stand ein Junge mit tief gebräuntem Gesicht und strohblondem Haar, der Max gerade die Zunge herausstreckte.
»Das ist Roland«, stellte Max vor. »Roland, meine Schwester Alicia.«
Roland nickte freundlich und sah dann zu den Fahrrädern, aber Max waren die Blicke nicht entgangen, die im
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