Der Funke des Chronos
er nicht weit gekommen, seit er und Heine sich getrennt hatten.
Tobias schlenderte zu dem Pfahl einer Öllaterne, deren Beleuchtungskörper die Form einer dreiseitigen, auf den Kopfstehenden Pyramide aufwies, und lehnte sich erschöpft dagegen. Die durchwachte letzte Nacht forderte ihren Tribut, und außerdem war ihm bewusst geworden, dass er nichts besaß als den einen Schilling, den er in Heines Jacke gefunden hatte, um sich etwas zu essen zu kaufen. Vielleicht sollte er in die Kirche gehen und anfangen zu beten?
Er malte sich schon aus, wie es wäre, in dieser Zeit als Tagelöhner und Stadtstreicher zu enden, als ihn ein spöttischer, doch vertrauter Ruf aus den düsteren Gedanken schreckte: »Hummel, Hummel!«
Tobias richtete sich auf und glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Nicht weit von der Kirche stromerten drei kichernde Jungen hinter einem langen, dürren Wasserträger her, der mit seiner eng anliegenden Kleidung und dem übergroßen, an einen Zylinder gemahnenden Hut eine kuriose Erscheinung abgab. Auf den Schultern trug der Mann ein hölzernes Gestell, von dessen Enden zwei gefüllte Wassereimer herabhingen. Wütend wandte sich der Angerufene zu den Strolchen um: »Mors, Mors!«
Wider Willen stahl sich ein Lächeln auf Tobias’ Lippen. Die beiden Worte bedeuteten bis heute soviel wie ›Leckt mich am Arsch!‹
Ungläubig blickte er dem Wasserträger nach. Jetzt war er doch tatsächlich Hummel begegnet. Der Mann wusste es natürlich nicht, aber nach seinem Tod würde er zum berühmtesten Stadtoriginal des alten Hamburg werden. Der Schlachtruf »Hummel, Hummel! Mors, Mors!« wurde von Tobias’ Zeitgenossen gern benutzt, um sich als waschechter Hamburger zu erkennen zu geben.
Erst jetzt bemerkte Tobias, dass er die drei Jungen kannte, die den bedauernswerten Wasserträger verfolgten. Der Blondschopf unter ihnen, das war dieser Friedrich, dem Caroline und er bereits vor einigen Tagen am Ort des Überfalls und später im Elysium-Theater begegnet waren.
»He, ihr! Wartet!« Tobias eilte den Jungen hinterher, und die drei wandten sich überrascht um. Als sie ihn erkannten, waren sie sofort auf dem Sprung.
»Kiek an, der Kerl, wo üss de Büdel för’n poor Knöppe afschnackt hett!« schnaubte Friedrich.
»Das war nicht ich, das war meine Begleiterin«, erwiderte Tobias möglichst freundlich. »Und wenn ich mich nicht irre, wolltet ihr uns bestehlen, oder?«
Die Jungen schauten sich misstrauisch um.
»Un, wat wull’n sej vun üss?«
Tobias seufzte innerlich und zückte das einzige Geldstück, das er besaß. »Ich könnte euch als Stadtführer gebrauchen. Als Lohn winkt euch die hier!« Er drehte die Münze zwischen den Fingern.
»Dormit sej üss wedder rinlegen, oda wat?« schnaubte Friedrichs jüngerer Begleiter. »Vergeeten sej dat.«
Die drei wollten sich schon abwenden, doch Tobias hielt sie auf.
»Wartet. Ich habe nicht vor, euch zu betrügen. Ich …« Fieberhaft suchte er nach einer Möglichkeit, die drei zur Zusammenarbeit zu bewegen. Gespannt blickten sie ihn an.
Unmöglich konnte er ihnen die Münze im voraus geben. Die Lümmel wären mit ihr abgehauen, bevor er bis drei gezählt hätte. Das Ganze würde also auf ein Pfand hinauslaufen. Unglücklich blickte Tobias an sich hinab. Bei der einzigen Lösung, die ihm einfiel, würde er allerdings eine ziemlich lächerliche Figur abgeben.
»Nun gut, was haltet ihr davon: Ich gebe euch einen Stiefel. Damit könnt ihr nicht viel anfangen, aber ich möchte ihn gern zurückhaben. Wenn ihr mich zu dem Haus führt, das ich suche, tauschen wir Stiefel gegen Schilling. Einverstanden?«
Die drei sahen sich feixend an.
»Verstoh ik dat richtig?« wollte Friedrich wissen und strich sich eine Strähne seines flachblonden Haars aus der Stirn. »Wi sollen sej föören, un sej lööp üss just mit een Schuh bekleidet noh?«
»Ja«, seufzte Tobias gedehnt. Was blieb ihm anderes übrig?
Mit allen anderen Kleidungsstücken, die er besaß, hätten die Bengel genauso das Weite gesucht. Ein einzelner Stiefel fand bestimmt nicht so leicht einen Abnehmer.
»Dat wull ik seihn«, lachte der Kleine.
Tobias schloss ergeben die Augen, zog seinen rechten Stiefel aus und reichte ihn dem Jungen.
»Also, wo soll dat hingohn?« fragte Friedrich belustigt.
Tobias nannte ihm die Straße. Die drei lachten und führten ihn zunächst zu einer nahen Holzbrücke, vor der Krämerinnen kleine Käfige mit Finken, Stieglitzen und Tauben zum Abtransport aufeinander
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