Der Funke des Chronos
dem«, fuhr sie stockend fort, »was passierte, als mein Vater gegen Mittag aus Bergedorf zurückkam. Er hat mich mit einem Rohrstock verprügelt. Das erste Mal in meinem Leben.« Sie schluchzte.
Tobias beugte sich vor und ergriff mitfühlend ihre Hände. »Es tut mir leid, Caroline. Fürchterlich leid. Ich hätte dich in diese Sache nicht hineinziehen dürfen.«
»Wo lebst du jetzt?« fragte sie ihn wieder mit einem verzweifelten Blick, der ihm durch und durch ging. Verlegen blickte er zu Boden. »Sagte ich doch schon. Auf der Straße.«
Caroline schüttelte sich.
»Und was ist dir seit gestern alles widerfahren?«
Tobias zögerte, doch dann berichtete er ihr mit knappen Worten von der Flucht aus dem Keller und von all den Seltsamkeiten, die er inzwischen herausgefunden hatte. Erst ganz zum Schluss verriet er ihr, wer der Fremde an seiner Seite war.
»Wie bitte? Heinrich Heine?« Caroline ließ seine Hände los und starrte ihn ungläubig an. »Tobias, du schwindelst mich doch nicht an, oder? Erst die Sache mit dieser … Zeitmaschine und jetzt das?«
»Ich weiß, dass das alles nicht sehr glaubwürdig klingt. Ich kann es ja selbst kaum fassen.« Er atmete tief ein. »Aber das braucht dich nicht mehr zu kümmern. Den Rest des Weges werde ich allein gehen. Gleichgültig, wie es endet«, fügte er bitter hinzu. »Heine ist davon überzeugt, dass der Zettel auf ein Schiff im Hafen verweist. Vermutlich heißt es Hammoma. Ich kann nur hoffen, dass wir dadurch etwas Licht ins Dunkel bringen.«
Caroline sah ihn durchdringend an und blinzelte.
»Alles in Ordnung?« wollte Tobias wissen.
»Ja«, hauchte sie eigentümlich fern.
»Ich muss jetzt gehen. Ich werde erwartet.« Tobias stand auf und seufzte. »Erklärst du mir, wie ich von hier aus zum Baumhaus finde?«
Er war sich nicht sicher, ob Caroline ihm zuhörte. Sie zog versonnen eine Schublade ihrer Kommode auf und griff nach Tagebuch und Schreibzeug. Fragend blickte sie ihn an.
»Wie? Ja, natürlich.« Sie erklärte ihm den Weg. Dann sagte sie kurz: »Und jetzt muss ich ein wenig schreiben.«
»Ja, tu das. Ich finde allein nach draußen«, erklärte er. Caroline antwortete nicht, sondern öffnete ein Tintenfässchen.
»Tja.« Tobias ging zur Zimmertür und verharrte. »Danke nochmals für alles. Ich hoffe, ich sehe dich wieder. Ich, also … nämlich … ich mag dich ziemlich gern, musst du wissen.«
Caroline blickte kurz auf. »Ja? Das freut mich. Wir sehen uns später.« Ohne ihn weiter zu beachten, wandte sie sich wieder ihrem Tagebuch zu.
Plankengang
Hamburg 1842, 4. Mai,
17 Minuten nach 10 Uhr am Abend
T obias war naßgeschwitzt und ziemlich außer Atem, als er endlich den Hafen erreichte und das Baumhaus vor sich auftauchen sah. Es stank nach Fisch, brackigem Wasser und dem Rauch der Dampfschiffe. Durch die halbe Stadt war er gerannt, um den Termin mit Heine einzuhalten. Doch es schien ihm schon jetzt eine halbe Ewigkeit her, seit die Kirchen der Stadt zur zehnten Abendstunde geläutet hatten.
Nachtwächtern und nächtlichen Passanten hatte er ebenso aus dem Weg gehen müssen wie betrunkenen Zechern, die auf Krawall aus gewesen waren. Zwar hatte er eigentlich nur eine lange Straße an einem Fleet hinunterlaufen müssen, doch blieb ständig die Furcht, sich erneut zu verirren.
Noch immer ging ihm Carolines abweisendes Verhalten nicht aus dem Kopf. Vorhin musste ihn der Teufel geritten haben. Er war ein solcher Narr. Was hatte er erwartet? Außerdem gehörte er, verdammt noch mal, nicht in diese Zeit.
Während er alle diese unerquicklichen Gedanken abzuschütteln versuchte, eilte er möglichst unauffällig an vier Droschken auf dem Vorplatz des Baumhauses vorbei. Die Kutscher standen am Rande des Hafenbeckens, schwatzten miteinander und ließen in der Dunkelheit eine Flasche kreisen. Aus den oberen Stockwerken des Hauses erscholl leise Violinmusik.
Tobias fächerte sich Luft zu und brachte seine Kleidung in Ordnung. Anschließend spähte er durch eines der hellerleuchteten Fenster im Erdgeschoß. An den Tischen des großen Speisesaals saßen vornehm gekleidete Gäste und parlierten bei Wein und Braten. Von Heine war nichts zu sehen.
»Ahem«, erklang es leise hinter ihm. Tobias fuhr herum und erkannte den Dichter im fahlen Lichtschein. Dieser hielt eine Taschenuhr in der Hand und maß ihn mit einem bärbeißigen Blick. »Ich dachte schon, Sie kämen gar nicht mehr.«
»Bin etwas aufgehalten worden«, antwortete Tobias
Weitere Kostenlose Bücher