Der Funke des Chronos
auf bestimmte Buchstaben in dem entsprechenden Wort.« Heine deutete auf die Einkerbungen. »Wir haben hier sechs Pfeile, die umlaufend angebracht sind. Über den Pfeilen stehen, folgt man den angebrachten Pfeilen im Uhrzeigersinn, die römischen Ziffern I, II, III, VI, IV und V. Damit könnte die Reihenfolge gemeint sein, in der man die ermittelten Buchstaben zusammenfugen muss. Vielleicht ergibt das ein Wort oder einen Begriff?«
»Gut. Probieren wir es aus«, sagte Tobias. Er trat dicht vor den Rahmen und inspizierte den Pfeil links unten mit der römischen Ziffer I. »Der hier könnte auf das ›Bein‹ verweisen. Darüber stehen die Zahlen 3, 5 und 6.«
Der Blick des Dichters verfinsterte sich. ›»Bein‹ hat nur vier Buchstaben. Vielleicht ›Unterschenkel‹? Oder ›Oberschenkel‹?«
»Ich weiß nicht«, zweifelte Tobias. »Vielleicht irren wir uns ja auch.«
»Tut mir leid, das Ganze war ja nur ein Vorschlag«, räumte Heine ein.
»Einen Augenblick!« Tobias fasste sich nachdenklich an die Stirn. Er erinnerte sich an seine Unterhaltung mit Justus Lewald in dessen physikalischem Kabinett zurück. »Ernst Georg Sonnin war in jungen Jahren Lateinlehrer. Wenn dieser Baumeister tatsächlich für das Rätsel verantwortlich ist, sind vielleicht lateinische Wörter gemeint!«
»Erstaunlich, was Sie über diesen Baumeister wissen«, spöttelte Heine.
»Also gut, probieren wir es noch einmal«, erklärte Tobias, ohne auf den Unterton in Heines Äußerung einzugehen. »Der Pfeil mit der römischen Ziffer I deutet auf das Bein, und das lautet übersetzt ›cruris‹. Jetzt der dritte, fünfte und sechste Buchstabe, also U, I und S.«
»Einverstanden.«
»Jetzt der Pfeil mit der römischen Ziffer II«, fuhr Tobias fort. »Er weist ziemlich deutlich auf die Hand. Übersetzt lautet das ›manus‹. Darunter ist eine 4 angegeben. Vierter Buchstabe, also U. Der dritte Pfeil hingegen zeigt auf den Kopf.«
»Das lautet übersetzt ›caput‹«, schmunzelte Heine.
»Die Zahlenangabe unter dem Pfeil lautet 5«, sagte Tobias. »Also T.«
Er übersprang den Pfeil mit der Ziffer VI und deutete auf jenen mit der Ziffer IV auf der rechten Seite des Rahmens. »Das könnte schon wieder die Hand sein.«
»Sind Sie sicher?« fragte Heine. »Sehen Sie doch, der Pfeil wurde tiefer angebracht als jener auf der gegenüberliegenden Seite. Aber gut, machen Sie weiter.«
»Also wieder ›manus‹«, erklärte Tobias. »Darunter steht eine 1, also erster Buchstabe: M. Jetzt der Pfeil ganz rechts unten, kurz oberhalb des Bodens. Der mit der römischen Ziffer V. Er zielt deutlich auf den Fuß. Unter dem Pfeil steht die 2.«
»›Pes‹«, übersetzte Heine ins Lateinische. »Der zweite Buchstabe, also ein E.«
»Und jetzt der letzte Pfeil!« rief Tobias und wanderte mit dem Finger wieder nach oben. »Der liegt auf Höhe der Schulter. Meine Güte, wie heißt ›Schulter‹ auf lateinisch?«
»›Umerus‹.«
»Hier sind die Zahlen 5 und 6 angegeben. Also ›U‹ und ›S‹.«
»Gut, dann fügen wir die Buchstaben zusammen.«
»Das Wort lautet UISUTMEUS.«
Die beiden starrten sich zweifelnd an.
»Das ergibt keinen Sinn«, seufzte Tobias, und blickte wieder auf die Scheibe. »Einen Augenblick. Was ist mit dem Q auf dem Fensterglas? Es befindet sich unmittelbar vor uns. Stellt man den Buchstaben ganz an den Anfang, kommt eine Frage heraus: QUIS UT MEUS? Wer ist wie … äh … mein? Oder: Wer ist wie der meinige? Klingt etwas seltsam, oder?«
»Ja, höchst seltsam«, bestätigte Heine. Plötzlich hellten sich seine Züge auf. »Ich wusste es: Mit dem Pfeil IV ist nicht ›Hand‹, sondern ›Finger‹ gemeint. ›Digitus‹. Der erste Buchstabe wäre demzufolge ein D – und die Frage lautet somit QUIS UTDEUS?«
»Das bedeutet übersetzt: ›Wer ist wie Gott?‹«, flüsterte Tobias.
»Ein neues Rätsel also.« Heine fuhr sich durch den Bart. »Ich bewundere den Sinn für Dramatik, der darin mitschwingt, aber davon abgesehen … was sollen wir damit anfangen? Ich befürchte, das ist alles verlorene Liebesmüh.«
»Aber dieses Rätsel muss doch eine Bedeutung haben«, ereiferte sich Tobias.
»Dann sagen Sie sie mir!« Heine sah Tobias zweifelnd an. »Wer ist wie Gott?« wiederholte er. »Vielleicht hat dieser elitäre Kreis damit den Smaragd gemeint? Vielleicht ist ihnen auch die eigene Macht zu Kopf gestiegen, und sie verwiesen auf sich selbst? Wir wissen nicht, was Sonnin und die anderen hier früher getrieben haben.
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