Der Funke des Chronos
verlassen. Weilst du morgen noch zwischen den Wällen, werde ich unsere Abmachung vergessen, die beiden Jungs hier werden dich arretieren und doch noch ins Zuchthaus stecken. Haben wir beide uns verstanden?«
»Ja«, stammelte der Mann.
»Gut, verschwinde!« Kettenburg drehte sich um und nahm seine Tasche und seinen Dienststock wieder auf. Wilkens stürzte bleich aus dem Raum und war kurz darauf verschwunden.
»Donnenvetter, Herr Polizeiaktuar«, brummte Borchert anerkennend, »den Vogel hebben Sie zum Singen bracht.«
»Dank för de lütte Belohnung«, meinte sein Freund und grinste. »Wenn sej mol wedder een Sonderauftrag för üss hebben, alltied wedder.«
»Ja, habe ich«, wandte sich Kettenburg an den hageren Konstabler. »Lauf zum Stadthaus und gib den Kollegen Bescheid: Der ach so hochweise Herr Senator wünscht, dass die Straßen gesichert werden. Man hat sich natürlich schon längst darum gekümmert, aber niemand soll mir vorwerfen, ich hätte den Befehl nicht weitergegeben.«
* Alter Hamburger Ausdruck für ein weit verbreitetes Verhalten der Nachtwächter und Polizeibeamten. Diese besserten ihr karges Gehalt gern durch voreilige Inhaftierung verdächtiger Subjekte im Stadtgebiet auf, da dies mit einer Kopfpauschale honoriert wurde.
»Zu Befehl, Herr Polizeiaktuar.« Jan salutierte linkisch und stürmte aus dem Raum.
»Und du« – Kettenburg tippte mit seinem Dienststock auf Borcherts Schulter – »wirst mich begleiten.«
Kettenburg humpelte ohne eine weitere Erklärung zurück in die Empfangshalle und von dort auf den Rathausplatz hinaus. Borchert folgte ihm schnaufend. Noch immer war kaum ein Durchkommen bei dem Durcheinander an Flüchtenden, Soldaten und Schaulustigen. Der Himmel westlich der Trostbrücke war rauchgeschwängert, jemand schrie: »Seht, die Nikolaikirche hat Feuer gefangen!«
Kettenburg warf einen Blick zum Gotteshaus hinüber und presste die Lippen zusammen. Dort oben am Kirchturm züngelten tatsächlich Flammen. Das Unvorstellbare war geschehen.
»Komm schon, Borchert!« Brüsk wandte er sich von dem Anblick ab und reihte sich in den endlosen Strom der Karren und Fußgänger ein.
Als sie das Ende der Straße Große Bleichen erreicht hatten, räusperte sich der dicke Polizeiofficiant. »Mit Verlaub, Herr Polizeiaktuar. Aber darf ik erfahren, wo wir eigentlich hinwulln?«
»Zum Domplatz, Borchert. Da wohnt dieser feine Ingenieur Lindley. Dieser Engländer, dem ich die Maschine kürzlich erst gezeigt habe. Wir werden ihn uns vorknöpfen, und dann darf er mir …«
Kettenburg brach unvermittelt ab und blieb stehen. Borchert stieß unsanft gegen ihn.
»Wat is denn?« fragte der Dicke und folgte dem Blick des Polizeiaktuars.
Dieser starrte verdutzt über die mit Karren und Passanten verstopfte Straße hinweg zur Einmündung der Brandstwiete. Dort stand ein vornehmes Eckhaus. Aus dessen Eingangstür stürzte gerade ein junger Mann mit längeren blonden Haaren heraus. Auf dem Fuß folgte ihm ein wohlsituiert wirkender Mann Mitte Vierzig mit lockigem Haar und Bart. Beide eilten sie die Straße hinunter, aus der die beiden Polizisten soeben gekommen waren, um sogleich in eine Nebengasse einzubiegen.
»Himmelherrgott!« wütete Kettenburg. »Das war dieser elende Herumtreiber. Los, Borchert! Kleine Planänderung. Hinterher!«
Tabula Smaragdina
Hamburg 1842, 5. Mai,
8 Minuten nach 11 Uhr am Vormittag
A m Ende der Straße erhob sich ein mächtiges Grollen, und der lichterloh brennende Dachstuhl eines Fachwerkhauses brach in sich zusammen. Die Dachschindeln prasselten wie Steinschlag in die Tiefe, und ein mit Möbeln beladenes Fuhrwerk, das gerade in eine Nachbargasse flüchten wollte, wurde mitsamt dem Fahrer unter brennenden Balken begraben.
Heinrich Heine und Tobias hielten entsetzt inne und pressten sich die Ärmelaufschläge ihrer Jacken vor den Mund. Schon im nächsten Augenblick legte sich beißender Qualm über die Straße und erstickte jeden Gedanken daran, ob dem Kutscher noch zu helfen wäre. Panisches Geschrei erfüllte die Straße, und die Kolonne der Menschen, der sie gefolgt waren, drängte eilig zurück.
»Kommen Sie, da entlang!« schrie der Dichter und zerrte Tobias in eine schmale Nebengasse, die geradewegs auf eines der Fleete zuführte. Das Feuermeer war längst außer Kontrolle geraten. Vom Wind entfacht, sprangen die Flammen von Haus zu Haus, von Dach zu Dach. Vor einem Hauseingang stand eine verwirrte alte Frau, der die Tränen in
Weitere Kostenlose Bücher