Der Funke des Chronos
werden.«
»Und wie?« Tobias war verwirrt.
»Durch ein spezielles Serum«, seufzte Heine. »Angeblich muss es aus dem ›Inneren Auge‹ des Menschen gewonnen werden: der Zirbeldrüse. Jenem Organ, von dem der Philosoph Descartes einst behauptete, es stelle die Verbindung zwischen Seele und Körper dar. Dazu muss es auf eine Weise stimuliert werden, die ich nicht ganz durchschaut habe, die aber verdächtig nach einem mesmeristischen Verfahren klingt.«
»Das ist okkultistisch verbrämter Unsinn«, widersprach Tobias. »Man benötigt kein Serum. Ich muss es doch wissen. Ich sage Ihnen, wozu die Zirbeldrüse dient. In meiner Zeit weiß das jeder Medizinstudent im ersten Semester. Dieses Organ schüttet ein Hormon namens Melatonin aus. Es handelt sich dabei um einen Botenstoff, der die Schlaf- und Wachphasen des Menschen steuert. Sonst nichts.«
»Mit anderen Worten. Es steuert unser Zeitempfinden?« fragte Heine. Das machte Tobias einen Augenblick lang sprachlos.
»Was … was passiert, wenn man dieses Serum nicht zu sich nimmt?« Er schien verunsichert. Heine zuckte mit den Schultern. »Darüber gibt es hier nur Andeutungen. Angeblich ist mit ernsthaften Schädigungen an Leib und Seele zu rechnen. Im schlimmsten Fall sogar mit dem Tod.«
Plötzlich erinnerte sich Tobias wieder an den Stich im Oberschenkel, kurz nachdem er sich im Uhrladen auf die Zeitmaschine gesetzt hatte. Und er erinnerte sich jetzt auch wieder an das kurze Schwindelgefühl, das er danach empfunden hatte. Ihm war also doch etwas injiziert worden. Die Vorrichtung dafür war offenbar im Sitz angebracht gewesen. Himmel, der Uhrmacher hatte doch angedeutet, dass für die Zeitmaschine Menschen gestorben seien! Das alles ergab plötzlich einen schrecklichen Sinn.
Tobias reichte Heine den Brief, den er im Arbeitszimmer gefunden hatte. »De Lagarde ist nicht allein für diese unglaublichen Verbrechen verantwortlich. Es gibt außer de Lagarde und William Lindley auch noch einen dritten, der uns Rede und Antwort stehen kann.«
Heine studierte den Brief und blickte auf. »Das erklärt aber nicht den Einbruch de Lagardes in das Landhaus Lewalds.«
»Nein, Sie haben recht«, murmelte Tobias.
»Und Ihre Bekannte weiß von alledem überhaupt nichts?« wollte Heine wissen.
Tobias schüttelte den Kopf. »Nein, bestimmt nicht, aber sie muss es erfahren. Nur habe ich keine Ahnung, wie ich ihr das begreiflich machen soll.«
Heine packte die gefundenen Unterlagen eilends zusammen und lief in den Flur. Dort wandte er sich zu Tobias um, als er bemerkte, dass dieser ihm nicht folgte. »Los, kommen Sie! Die Stadt brennt. Schlimmer kann es kaum noch kommen!«
Quis ut deus?
Hamburg 1842, 3. Mai,
20 Minuten nach 12 Uhr mittags
T obias und Heine kehrten auf die Straße zurück und tauchten sogleich im Strom der Flüchtenden und Schaulustigen unter. Im Südwesten war der Himmel noch immer schwarz vor Rauch. Sie entdeckten, dass rote Flammenzungen bereits am Turm der Nikolaikirche emporleckten. Heine führte Tobias durch schmale Gassen und über eine weitere Kanalbrücke zum Neuen Wall, wo sie nun zum Jungfernstieg in Richtung Binnenalster liefen. Zum ersten Mal seit seiner Ankunft in dieser Zeit kam Tobias dazu, dem Hamburger Prachtboulevard einen Besuch abzustatten. Zugleich wusste er, dass ihm als einem der letzten dieser Anblick vergönnt war. Denn wenn er sich richtig erinnerte, würde schon in wenigen Stunden auch der Jungfernstieg in Flammen stehen.
Rechts der Flaniermeile, unmittelbar am Alsterbecken gelegen, das den Nordwestteil der Stadt wie ein See schmückte, erhoben sich in drei Baumreihen grüne Linden. Zwischen den Bäumen lag der strahlendweiße Alsterpavillon, vor dem weiterhin ungerührt einige vornehme Gäste saßen und bei Tee und Kaffee parlierten. Noch immer unterschätzten die Bürger Hamburgs die Gefahr, in der sie alle schwebten.
Links wurde die Prachtstraße von vornehmen hohen Gebäuden gesäumt. Darunter gab es eine ganze Reihe altehrwürdiger Hotels mit klangvollen Namen wie St. Petersburg, Zum Kronprinzen, Hotel de Russie, Alte Stadt London und Streits Hotel. Immerhin, wenigstens hier stellten sich viele Gäste darauf ein, vorzeitig abzureisen.
Heine, der Tobias’ Blick bemerkte, deutete auf ein stattliches Haus zwischen den edlen Gästehäusern. »Das da ist das Bankhaus meines Onkels. Ich hoffe, er hat meine Nachricht erhalten.«
»Sind wir hier, weil wir ihm einen Besuch abstatten wollen?« keuchte
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