Der Funke des Chronos
Städte Altona und Hamburg waren in dieser Epoche Rivalinnen. Und das nicht erst seit der Kontinentalsperre Napoleons knapp dreißig Jahre zuvor. Damals hatte das aufklärerische Altona versucht, der Hansestadt den Rang als Stapelplatz für Kolonialprodukte und englische Waren an der Elbmündung abzulaufen. Doch nachdem sich Dänemark dem Frankreich Bonapartes angeschlossen hatte, brach die Wirtschaft auch hier ein. Derzeit befand sich Hamburg wieder im Aufwind.
Hannchen, die Haushälterin der Lewalds, stammte aus Altona, und Caroline berichtete, dass hier auch ihr einstiger Privatlehrer lebte. Tobias erfuhr zu seinem Erstaunen, dass dieser sie in Latein, Französisch, Literatur, Mathematik und Geschichte unterrichtet hatte. Im Hause der Lewalds schien offenbar so manches anders gehandhabt zu werden als in vergleichbaren Familien dieser Zeit. Dass Caroline nicht mit den Maßstäben zu bewerten war, die für andere Frauen ihrer Epoche galten, hatte er natürlich schon bemerkt. Diese reiche Bildung aber schien ihm für eine Frau der Biedermeierzeit dennoch ungewöhnlich. Tobias freute sich für Caroline.
Schweigend passierten sie die königlich dänische Münze und fuhren dann eine Geschäftsstraße nahe des Altonaer Hafens entlang, in der Ankerschmieden, Zimmereien und Manufakturen ansässig waren. Als sie die Stadt endlich hinter sich hatten, war Caroline eingeschlafen.
Tobias musterte seine Begleiterin nachdenklich. Ihr Kopf ruhte an einer der ledernen Kopfstützen, und eine vorwitzige Haarsträhne tanzte vor ihrer Stirn. Von den Blessuren der letzten Nacht waren in ihrem Gesicht nur noch wenige Spuren zu entdecken. Caroline musste sie mit Schminke überdeckt haben. Immer schien es ihm, als sprühe sie nur so vor Energie, doch in diesem Augenblick wirkte sie erschöpft und unendlich verletzlich.
Tobias wusste nicht, wie lange er so verharrt hatte, als sie bei einem weiteren Schlagbaum haltmachten. Erschrocken fuhr seine Begleiterin hoch und sah ihn an. Tobias wandte sich ertappt ab.
Offenbar hatten sie die Grenze zu einem Privatweg erreicht. Als er den Kopf aus dem Droschkenfenster streckte, sah er, wie Kristian dem Wärter einen Passierschein reichte.
»Ah, die Flottbeker Chaussee. Jetzt dauert es nicht mehr lange«, erklärte Caroline. Tobias nickte, und wenig später ging die Fahrt auf einer sandigen Straße weiter, die sich über Höhen und eingebettete Auen weit nach Norden zog. Von irgendwoher wurde der Duft von Orchideen herübergetragen. Zur Elbseite hin dehnte sich flache Marsch, zu ihrer Rechten erhob sich eine hügelige und waldige Landschaft. Er sah bereits die ersten Villen und Herrenhäuser, die mit Blick auf den Elbstrom und seine Schiffe errichtet worden waren. Die Landsitze waren von weiten, prächtigen Parkanlagen umgeben, in denen Tobias sogar bunte Pfauen entdeckte. Einer der Laufvögel spreizte soeben sein prachtvolles Gefieder. Die ganze Zeit über war von der Elbe her leises Möwengeschrei zu hören. Die Vögel wirkten vor dem strahlenden Himmelsblau wie weiße Papierfetzen, die der warme Frühlingswind in die Luft emporgewirbelt hatte.
»Ich liebe diesen Ausblick«, seufzte Caroline.
»Verstehe ich sehr gut«, meinte Tobias, vertieft in den Anblick einer stattlichen Villa, die sich links vom Weg erhob. »Sagen Sie, wer lebt da?«
»Oh, da wohnt Salomon Heine. Der Onkel von Heinrich Heine, dem berühmten Dichter.« Und sogleich deklamierte sie: »Frühling. Die Wellen blinken und fließen dahin, es liebt sich so lieblich im Lenze! Am Flusse sitzt die Schäferin und windet die zärtlichsten Kränze … Weiter weiß ich leider nicht.«
Entschuldigend lächelte sie und wurde rot, als sie Tobias’ belustigten Blick sah.
»Salomon Heine ist ein jüdischer Bankier«, fuhr sie fort. »Sein Stadthaus in Hamburg steht am Jungfernstieg, und mein Vater meint, dass er ganz sicher einer der reichsten Männer im ganzen Deutschen Bund sei. Jedenfalls ist er ein Mann von rastlosem Fleiß. Dennoch sieht man ihn oft im Stadttheater. Und obwohl er schon über siebzig Jahre zählt, heißt es, er sei noch immer ein charmanter Bonvivant.«
»Eigentlich begreife ich nicht so ganz«, erwiderte Tobias, »warum so viele Hamburger so weit fort vor die Stadt ziehen. Immerhin ist das hier ja schon Dänemark.«
Seine Begleiterin schmunzelte. »Sie Dummerchen, natürlich der schönen Landschaft wegen. Außerdem dürfen Sie nicht vergessen, dass es in Hamburg nicht immer so friedlich zuging wie in diesen
Weitere Kostenlose Bücher